Ausgeweidet (German Edition)
übernommene Modell der Gartenstadt. Seit 1999 steht die Siedlung unter Denkmalschutz. Die Hauptkommissare schauen sich um. Alle Häuser, so scheint es, sind unlängst saniert worden. Die Familie Kirchfeld wohnt in einem gepflegten Reihenfamilienhaus, das in den späten 1920er-Jahren erbaut wurde.
Frau Kirchfeld öffnet ihnen die Tür, eine kleine Frau Anfang fünfzig, die verhärmt aussieht. Nachdem sie sich vorgestellt haben, bittet sie die beiden sichtlich nervös herein.
»Er hat doch nicht schon wieder etwas angestellt?«
Sie knetet ihre Hände und schaut den Hauptkommissar ängstlich an. Er hat das schon oft erlebt, meistens bei Müttern. Sie ahnen das Unvorstellbare, aber warten angespannt darauf, dass ihnen eine Nachricht überbracht wird, die noch Hoffnung ermöglicht. Als Clemens ihr im Wohnzimmer die Todesnachricht überbringt, bricht sie zusammen. Maria holt ihr Handy aus der Lederjacke und ruft die Notrufnummer an. Clemens leitet beherzt Erste-Hilfe-Maßnahmen ein. Nach wenigen Minuten hören sie schon das immer näher kommende Martinshorn. Erleichtert öffnet Maria die Haustür und lässt den Notarzt und die Rettungssanitäter herein.
Frau Kirchfeld wird sofort in das Evangelische Krankenhaus Duisburg-Nord gebracht, das über eine zentrale Notfallversorgung verfügt. Ihr Mann, das erfährt Clemens noch, als Frau Kirchfeld kurz zu Bewusstsein kommt, arbeitet bei den Stadtwerken in Duisburg und hat Wochenenddienst, also lässt er Flemming dort anrufen.
Im Krankenhaus treffen sie auf Herrn Kirchfeld, der bereits kurz bei seiner Frau war. Sichtlich mitgenommen, erzählt er den Polizisten einiges über seinen Sohn.
»Ja, der Thomas. Immer war es schwierig mit ihm. Mit dem Jungen hatten wir ewig Sorgen. Der bekam sein Leben einfach nicht in den Griff. Aber helfen ließ er sich auch nicht.« Dass er ein Vergewaltiger sein soll, weist der Vater weit von sich. So etwas hätte sein Sohn nicht getan, er hätte es sich selbst schwer gemacht, aber nie Gewalt gegen andere ausgeübt. Ja, er sei Einzelgänger gewesen, keine Freunde, keine Clique, keine Freundin. Ein richtiger Eigenbrötler eben.
»Waren Sie beim letzten Verhandlungstag am Freitag dabei?«, will Clemens wissen.
»Nein. Er hat uns gebeten, nicht zu kommen. Er wollte das alleine durchstehen.«
»Wissen Sie, was er danach gemacht hat?«
»Nein. Aber es könnte gut sein, dass er verabredet war.«
»Mit wem?«
»Keine Ahnung«, seufzt Kirchfeld.
»Aber wie kommen Sie darauf?«, fragt Clemens nach.
»Trotz der Anschuldigungen und der Strapazen der Gerichtsverhandlung schien es mir, dass Thomas an Selbstbewusstsein gewonnen hat. Als wenn er endlich begriffen hätte, dass es so nicht weitergehen kann.«
»Und worauf führen Sie das zurück?«
»Er hat Andeutungen gemacht, dass er endlich einen Menschen gefunden hat, der ihn zu nehmen weiß.«
»Seinen Anwalt?
»Nein, der bestimmt nicht«, äußert sich Kirchfeld abfällig.
»Weshalb?« Clemens ahnt, dass auch hier wieder einmal ein Pflichtverteidiger nur das allernötigste Engagement gezeigt hat.
»Der hat sich kaum mit meinem Sohn beschäftigt. Aber immerhin hat er ihn rausgeboxt.«
»Eine Freundin, ein Freund?«
»Nein, eine Freundin kann ich mir nicht vorstellen.« Er überlegt. »Auch kein gleichaltriger Freund. Eher jemand, der älter ist, der Verständnis für ihn zeigt. Ich weiß es nicht. Es ist nur so ein Gefühl. Donnerstag, als er uns gebeten hat, nicht bei der Gerichtsverhandlung dabei zu sein, sagte ich noch zu meiner Frau: ›Vielleicht hat er ja jemanden gefunden, der ihm das geben kann, was wir nicht können.‹«
Clemens bedankt sich bei Kirchfeld und bittet ihn, um halb vier in die Gerichtsmedizin der Düsseldorfer Universität zu kommen, um seinen Sohn zu identifizieren. Nach wenigen Schritten dreht sich Clemens um und steuert erneut auf Kirchfeld zu, der sich erschöpft auf einen der Stühle vor dem Eingang zur Intensivstation gesetzt hat.
»Entschuldigen Sie, ich hätte doch noch eine Frage. Ihr Sohn hatte doch bestimmt ein Handy bei sich?«
Kirchfeld schaut ihn irritiert an.
»Ohne Handy ist er nie aus dem Haus gegangen.«
»Hat er eine Tasche bei sich gehabt?«
»Nein, aber immer seinen schwarzen Rucksack.«
»Wie lautet seine Handynummer?«
Kirchfeld holt sein Handy heraus und schaut in seinem Adressbuch nach.
Kaum haben Clemens und Maria das Krankenhaus verlassen, ruft er Flemming an.
»Hendrik, mach dich mal schlau, zu wem Thomas Kirchfeld während
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