Ausgeweidet (German Edition)
heute einen romantischen und sehr abwechslungsreichen Liederabend präsentieren wird. Im ersten Teil singt sie Lieder von Mussorgsky und Schumann, dann folgt eine Pause von zwanzig Minuten, und danach interpretiert die Sängerin Lieder von Schubert.
Das Licht wird gedimmt, der Zuschauerraum liegt nun fast im Dunklen, nur die Bühne ist ausgestrahlt. Kaum hat Senta Hartmann die Bühne betreten, diesmal in einem eng anliegenden, schlichten, mitternachtsblauen Abendkleid, wird sie mit Applaus begrüßt. Sie verneigt sich, lächelt kurz, dann wird es still. Sie beginnt mit Mussorgskys »Kinderstube«. Lieder, die einer Sängerin viel Einfühlungsvermögen und auch Kenntnis über die kindliche Seele abverlangen.
Clemens ist begeistert. Es fällt ihm schwer, seinen Blick von der Bühne abzuwenden, und er nimmt sich vor, Alexander mit einem dieser Liederabende zu überraschen. Doch jetzt konzentriert er sich auf das Publikum. Langsam wandert er mit seinem Blick die kleinen Tische entlang. Der größte Teil der Besucher ist nur von hinten zu sehen, nur bei ganz wenigen kann er ein Halbprofil erkennen. Schnell ermüden seine Augen. Wieder lässt er sich von der eindrucksvollen Stimme Senta Hartmanns wegtragen.
Als der Applaus losbricht, zuckt er zusammen. Das Licht erhellt den Zuschauerraum, die Bühne ist leer, und die ersten Gäste erheben sich. Einige drängen in Richtung Bar, andere nach draußen zur Außentreppe, um frische Luft zu schnappen. Clemens und Maria stehen ebenfalls auf, ohne sich in das Gedränge zu stürzen. Die vielen Menschen und die recht verwinkelten Räumlichkeiten erschweren das Beobachten der Gäste.
Dann ertönt der erste Gong, und alle gehen zurück zu ihren Sitzplätzen. Das braucht seine Zeit, doch das Chaos löst sich auf wundersame Weise auf, ohne Hektik und ohne Rempeleien. Nach dem dritten Gong sind fast alle Gäste auf ihren Sitzplätzen angekommen, das Licht wird erneut gedämpft.
Hatte Clemens anfangs die Programmabfolge als recht ungewöhnlich empfunden, muss er sich jetzt bei den Schubertliedern eingestehen, dass Senta Hartmann über einen zwar eigenwilligen, aber sehr klugen Gestaltungswillen verfügt. Immer wieder lässt er seinen Blick über das Publikum gleiten. Er berührt Maria leicht am Arm, die sich daraufhin zu ihm wendet. Auf seinen fragenden Blick zuckt sie nur mit den Schultern.
Nach der letzten Zugabe, dem »Wiegenlied« von Schubert, bleibt es eine Minute lang ganz ruhig, bevor das Publikum die Ergriffenheit überwunden hat und fast alle aufspringen, um die Sängerin mit anhaltendem Applaus zu belohnen. Nach einigen Minuten kommt Pascal Schmitz auf die Bühne, bedankt sich bei Senta und dem Publikum, wünscht allen noch einen schönen Abend und geleitet sie von der Bühne an die Bar, an der die Hauptkommissare schon warten. Clemens von Bühlow gratuliert Senta Hartmann zu dem gelungenen Abend und bestellt drei Gläser Sekt und ein Wasser.
»Wir sind zwar im Dienst, aber ein Glas Sekt kann inspirieren.« Er lächelt Maria zu.
Pascal grinst, dann fragt er: »Sind Sie inzwischen weitergekommen?«
»Die Ermittlungen laufen nicht immer so, wie wir uns das wünschen.« Clemens macht eine Pause, bevor er fortfährt. »Wir haben einen weiteren Mord, und wenn wir nicht schnell zu Ergebnissen kommen, befürchte ich, wird es weitergehen.«
»Ein Serienmörder?«, fragt Pascal schockiert.
»Zumindest jemand, der vollkommen außer Kontrolle geraten ist.«
»Wie können wir Ihnen helfen?«
»Sagen Sie uns bitte alles, was Ihnen in letzter Zeit außergewöhnlich vorgekommen ist«, fordert Maria freundlich, aber bestimmt.
Pascal schaut Senta an, die ihm zunickt.
»Na ja, wir haben da einen Gast, der kommt zu jedem Liederabend und mittlerweile auch zu den Generalproben. Das haben wir so noch nicht erlebt. Aber das ist nicht alles. Er scheint Senta zutiefst zu verehren, schreibt ihr Briefe und schickt Fotos, die er an den Abenden macht, obwohl das nicht gestattet ist. Ehrlich gesagt: Er ist uns nicht ganz geheuer.«
»Ist das der ältere Mann, der auch heute Fotos geschossen hat?«, fragt Clemens.
»Ist er Ihnen aufgefallen?«
»Ja, ich habe ihn zwar nur von hinten gesehen, aber von seiner Art, sich zu bewegen, und von seiner Ausstrahlung passt er nicht hierher. Kein Paradiesvogel, auch kein Mensch, den man sich als Kulturliebhaber vorstellen kann, eher ein Biedermann.« Entschuldigend fügt er hinzu: »So scheint es auf den ersten Blick. Vorurteile sind schon was
Weitere Kostenlose Bücher