Ausgeweidet (German Edition)
Äste an. Maria kümmert sich derweil um die beiden Journalisten, die rauchend hinter dem Absperrband stehen und – Clemens weiß nicht, wie sie es rauskriegen – noch vor der ersten Meldung an die Presse schon Wind von der Leiche bekommen haben. Noch lässt sich nichts sagen, ein männlicher Toter. Wenn sie mehr wissen, wird kurzfristig eine Pressekonferenz einberufen, doch nun mögen sie die polizeilichen Ermittlungen nicht weiter stören, erklärt die Hauptkommissarin freundlich, aber bestimmt.
Oberkommissar Christian auf der Heide vernimmt gerade Axel Nolte, und Kriminalrat Otto Kreutz ist schon zusammen mit der Oberstaatsanwältin Pia Cremer auf dem Weg ins Präsidium. Sie hat es sich nicht nehmen lassen und den Tatort selbst in Augenschein genommen. Das macht sie fast immer, ganz im Gegensatz zu einigen ihrer Kollegen, die sich die Eindrücke und Fakten von den Ermittlern referieren lassen. Die Oberstaatsanwältin braucht das, tuscheln die Kommissare, freundlich gesonnen und mit einem gewissen Respekt. Pia Cremer arbeitet nach dem Motto: Auch ein Staatsanwalt muss die Fährte aufnehmen. Als Nächstes wird sie die Obduktion des Toten beantragen und den Ermittlungsauftrag ausstellen, dann kann Kreutz sein Ermittlungsteam zusammenstellen.
Von Bühlow geht ein gutes Stück auf die Lichtung zu. Er will sich ungestört den Tatort und die nähere Umgebung anschauen und alles auf sich wirken lassen. Im Gegensatz zur gängigen Polizeiarbeit gibt er seiner Fantasie Raum. Er verlässt sich auf seine Intuition, auf die sich spontan einstellenden Assoziationen. Seine Kollegen ziehen ihn manchmal auf, wenn seine Fantasie mit ihm durchgeht, doch seine Erfolge geben ihm meistens Recht. Für ihn ist diese erste Phase der Ermittlung die spannendste, wenn er die vielfältigen Eindrücke aufsaugt, sie ins Verhältnis zueinander setzt und versucht, das Geschehen für sich zu rekonstruieren.
Das Unwetter der letzten Nacht hat viele Spuren beseitigt, aber dennoch ist deutlich zu erkennen, dass die Leiche vom Weg über die Böschung in die Mulde gerollt wurde: Abgeknickte Bodendecker, die zerwühlte Laubdecke, und die Erde ist eingedrückt. Clemens schaut sich um und bemerkt den Hochsitz. Sofort geht er zu den Kollegen der Spurensicherung zurück und bittet sie, auch den Hochsitz genau zu untersuchen. Dann entfernt er sich erneut, setzt sich abseits auf einen Stapel Holzstämme und betrachtet den Ort.
Schnell wird ihm klar, dass es sich hier um eine Hinrichtung handelt. Ein gezielter Schuss, das muss die Gerichtsmedizin noch bestätigen, und das Opfer wurde ausgenommen wie ein erjagtes Wild von einem Jäger. Die Zweige erkennt er sofort als Bruch. Damit soll etwas gezeigt werden. Aber was? Vielleicht, dass hier ein Mensch wie ein Schwein abgeschlachtet wurde? Der Mörder hat nicht einfach so getötet, er richtet hin, weil diese Person es aus seiner Sicht verdient hat. ›Wie war das noch mit den Brüchen?‹ Clemens versucht, sich zu erinnern. Früher hat ihn sein Vater ab und an zur Jagd mitgenommen, ohne seinen Sohn dafür begeistern zu können.
›Der Bruch auf dem Körper bedeutet Inbesitznahme‹, überlegt er. ›Es ist der letzte Gruß des Jägers an das erlegte Wild, und zugleich definiert er damit das Geschlecht des Tieres. Wie lag der Zweig noch mal?‹ Clemens versucht, sich das Bild ins Gedächtnis zu rufen. ›Ja, mit dem abgerissenen Ende Richtung Kopf, also das Zeichen für ein männliches Tier. Kurios. Erst wird der Tote entmannt, um ihm dann später seine Männlichkeit wiederzugeben. Und der Zweig im Mund?‹ Clemens denkt angestrengt nach. »Der ›letzte Bissen‹, auch ein Bruch, der nur einem männlichen Tier zuteil wird«, rutscht es ihm heraus. Clemens ist irritiert. Irgendetwas passt nicht zusammen. Er streicht sich mit den Fingern über die Stirn. Eine Angewohnheit, die sich immer dann einstellt, wenn er hoch konzentriert ist. »Ja, das ist es«, überlegt er laut. »Brüche sind nicht nur Zeichen der Inbesitznahme und definieren das Geschlecht des Tieres, sie sind auch Ausdruck der Ehrerbietung.« Doch warum sollte ein Mörder seinem Opfer Ehre bezeugen? Vor allem bei so einem bestialischen Mord macht das doch keinen Sinn. Es sind keine Anzeichen einer sogenannten Wiedergutmachung zu finden. Clemens schüttelt den Kopf, klappt seinen Moleskin auf und notiert seine ersten Eindrücke – eine Marotte, jeder neue Fall ein neues schwarzes Notizbuch. Wer weiß, vielleicht schreibt er nach seiner
Weitere Kostenlose Bücher