Ausländer
den Nazis sicher. Die Papiere, die sie für die Einreise nach Schweden brauchte, hatte sie nach wie vor bei sich. Ebenso die Telefonnummer ihrer Schwester Mariel. Und sogar noch genug Geld für den Zug nach Stockholm. Welche Kontrollen sie in Schweden auch passieren müsste, das wäre alles nichts im Vergleich zu dem Kreuzverhör in Stralsund.
Niemals würde sie sich verzeihen, dass sie die Kinder draußen vor dem Bahnhof einfach zurückgelassen hatte. Hätten sie alles gründlich durchdacht, hätte sie den Kindern vorher ihre Ausweise geben müssen, damit sie wenigstens eine Chance gehabt hätten, falls sie, Ula, verhaftet würde. Aber sie war erschöpft gewesen und die Kinder ebenso, darum hatte niemand mehr einen klaren Gedanken fassen können.
Man hatte sie bis zehn Uhr abends in dem kleinen Raum imBahnhof festgehalten. Die Vernehmungsbeamten waren höchst misstrauisch. Aber sie hatte felsenfest auf ihrer Geschichte beharrt und sich über ihre Festnahme äußerst ungehalten gezeigt. Die Vorstellung, die sie geboten hatte, wäre einer Garbo würdig gewesen, sagte sie sich.
Und schließlich hatte man sie gehen lassen. Warum, wusste sie nicht, denn ein Telefonanruf in Berlin hätte genügt, um binnen Minuten ihr Schicksal zu besiegeln. Doch vielleicht hatte es wieder einen Luftangriff gegeben, der das Telefonnetz unterbrochen hatte? Wie auch immer, sie wollten die Schweden wohl nicht mehr als nötig verärgern, und das hatte sie letztlich gerettet.
Als sie den Bahnhof verlassen durfte, verbrachte sie den Rest des Abends mit der Suche nach Anna und Peter. Sie mietete sich wieder in dem Hotel ein und setzte am folgenden Tag ihre Suche fort. Es war hoffnungslos. Sie konnte ja niemanden nach den Kindern fragen. Das wäre zu riskant gewesen. Wenn sie bloß vorher einen Plan gemacht und einen Treffpunkt vereinbart hätten. Aber das hatten sie versäumt, und jetzt war es zu spät.
Abends stieg sie in den Zug und kam ohne weitere Zwischenfälle am Fährbahnhof Sassnitz an. Sie ging gleich an Bord, ohne sich weiter mit Fragen zu quälen. Allein, so dachte sie, fiel sie weniger auf.
Ula Reiter neigte nicht zu Sentimentalitäten. Sie wusste, dass es keinen Sinn mehr hatte, nach Anna und Peter zu suchen. Wenn man sie gefasst hatte, wurden sie vielleicht gefoltert und verrieten sie. Das hoffte sie sogar, denn dann müssten sie nicht so sehr leiden. Das Letzte, was sie wollte, war, dass Anna litt, um sie zu schützen. Ihr ging sogar die Möglichkeit durch den Kopf, sich freiwillig zu stellen, um ihrer Tochter die Folter zu ersparen. Man würde sie ohnehin alle hinrichten. Aber vielleicht waren sieauch noch auf freiem Fuß. Vielleicht versuchten sie immer noch, sich nach Schweden durchzuschlagen, wie sie selbst. Es wäre also sinnlos, dazubleiben und sich festnehmen zu lassen.
All diese Erwägungen gingen ihr durch den Kopf, als ihr zwei sehr verwahrlost wirkende junge Leute an der Bar auffielen. Es dauerte nur eine Sekunde, dann hatte sie sie erkannt. Sie musste einen Schrei unterdrücken. Die beiden sollten sie nicht sehen. Nicht hier. Sie würde sie irgendwo abpassen, wo keine anderen Leute zugegen waren. Sie mussten immer noch vorsichtig sein. Noch waren sie nicht in Sicherheit. Sie leerte ihr Glas und versuchte sich unauffällig davonzustehlen.
Aber es war zu spät. Anna hatte sie gesehen und schrie fast vor Freude.
Auf der anderen Seite der Bar blickte ein Gast, durch den Lärm aufmerksam geworden, von seiner Zeitung auf. Zwei Frauen umarmten sich stürmisch, und der junge Mann, der etwas verlegen daneben stand, erinnerte ihn sofort an jemanden. Die Frauen waren zwar blond und nicht dunkelhaarig, und eine von ihnen trug eine wenig schmeichelhafte Brille. Aber dennoch erkannte er die drei. Kriminalassistent Werner Schlüter bekam Herzklopfen.
Ula bemühte sich eilig, Anna zu beschwichtigen. »Mein Liebling, wir dürfen kein Aufsehen erregen. Wir sind noch nicht in Schweden. Wer weiß, wer sonst noch an Bord ist und ob sie uns noch zurückholen können …«
Anna beruhigte sich ein wenig. »Treffen wir uns draußen auf dem Oberdeck neben dem Schornstein«, sagte Ula. »Dort können wir uns unterhalten.« Damit verließ sie die Bar.
Draußen blies ein warmer Südwind. Es war eine wunderschöne Nacht und die Ostsee so ruhig wie ein Mühlteich. Alles lief glatt. Das Oberdeck war so gut wie ausgestorben.
Anna und Peter fanden Ula problemlos. Sie setzten sich auf eine Bank und tauschten eilig und im Flüsterton ihre
Weitere Kostenlose Bücher