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Ausländer

Ausländer

Titel: Ausländer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Baumhaus
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nennst.«
    Peter beneidete Anna um ihr Verhältnis zu ihren Eltern. Sie nannte sie immer Mutti und Vati. Die Kaltenbachs runzelten über diese Ungezwungenheit die Stirn. Elsbeth und Traudl hatten »Mutter« und »Vater« zu sagen, nur die kleine Charlotte durfte sie noch mit »Mama« und »Papa« anreden.
    Es war acht Uhr. Die Sperrstunde für junge Leute begann um neun, aber beide waren noch zu aufgewühlt, um nach Hause zu gehen.
    »Laufen wir zu Fuß heim«, schlug Peter vor. »Nach dem, was passiert ist, kann ich sowieso nicht schlafen.«
    »Wir haben noch eine Stunde, das müsste reichen«, sagte Anna.
    Bei der Museumsinsel überquerten sie die Spree und bogen in die breite Allee Unter den Linden ein. Es war eine wunderschöne Nacht. Während sie gingen, schwanden allmählich die Aufregung und die Freude über ihre gelungene Flucht.
    »Was wird wohl mit denen geschehen, die erwischt worden sind?«, überlegte Anna.
    Peter schüttelte den Kopf. »Sie kommen vermutlich mit ein paar blauen Flecken davon. Aber wahrscheinlich bringt man sie in die Prinz-Albrecht-Straße. Die Gestapo wird scharf darauf sein, mehr über sie und ihre Freunde herauszufinden.«
    Anna schauderte bei der Erwähnung der Gestapo-Zentrale. Sie war einmal mit ihrem Vater dort gewesen, als er eine Akte aus dem Stab des Ersatzheers überbrachte. »Was für ein seltsames Gebäude«, sagte sie zu Peter. »Es war früher einmal eineKunstschule. Mit riesengroßen Räumen. Die Treppen und Säulen sind alle aus Marmor. Früher konnte man dort Aktzeichnen lernen und wie man mit Ölfarben und Kohle umgeht. Heute wird man dort gefoltert. Das nennt sich Fortschritt.«
    Peter stieß sie mit dem Ellbogen in die Rippen. Zwei Polizisten kamen auf sie zu. Die Männer gingen mit einem einfachen »Heil Hitler!« an ihnen vorbei, ohne ihnen besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
    Als sie den weiten Platz bei der Oper vor der Friedrich-Wilhelms-Universität überquerten, sagte Anna: »Hier haben sie die Bücher verbrannt. Kurz nach Hitlers Machtergreifung. Die Studenten haben die Bibliotheken geplündert. Alle Schriften von Juden, Russen und Polen, die sie finden konnten, haben sie auf den Scheiterhaufen geworfen. Dostojewski, Marie Curie, Freud … Wissenschaft, Literatur, einfach alles. Denn wie der Führer sagt: ›Wenn die Wissenschaft nicht ohne Juden auskommt, dann werden wir eben ein paar Jahre lang ohne die Wissenschaft auskommen müssen.‹ Das ergibt wirklich Sinn.«
    Peter wusste nicht, wer Dostojewski und Freud waren, wollte aber auch nicht fragen.
    »Studenten!«, fuhr sie fort. »Keine Schlägertypen wie die SS  … Gebildete Leute haben das getan! Ich war damals erst fünf, aber mein Vater hat immer davon erzählt, wenn wir hier vorbeigekommen sind. Was ist nur in sie gefahren?«
    Die Frage blieb unbeantwortet. »Hitler«, sagte Anna. »Er hat uns alle verhext. Es ist wie in einem schrecklichen Märchen. Aber manche von uns wachen allmählich auf. Und wenn auch nur, um zu Swing-Musik zu tanzen.«
    Als sie das Brandenburger Tor erreichten und sich nach Süden Richtung Wittenbergplatz wandten, wurde Anna wehmütig zumute. »Das ist eine so wunderschöne Stadt«, sagte sie und zog Peter fest an sich. »Was für eine Schande, dass wir sie mit diesen Verrückten teilen müssen. Wenn wir irgendwo anders leben würden, zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, könnten wir einfach das Leben genießen, ohne groß darüber nachzudenken. Tanzen gehen, in einer Bar etwas trinken – wen würde das kümmern? Die Nazis haben uns den ganzen Spaß am Leben genommen. Was haben wir schon, worauf wir uns freuen können? Ich weiß zwar nicht, wie der Krieg ausgeht, aber für Deutschland dürfte es nicht leicht werden.«
    Peter fürchtete, dass Anna das alles sehr zu Herzen ging. Aber als er sie ansah, wirkte sie ganz gefasst. In ihren Augen standen keine Tränen. Sie machte einen ganz nüchternen Eindruck.
    »Wer weiß. Vielleicht irrst du dich«, sagte Peter und küsste sie zärtlich auf die Schläfe.
    »Aber das ist ja das Schlimme«, sagte Anna. »Falls ich falschliege und die Nazis gewinnen, welche Hoffnung bleibt der Welt dann?«
    Dieser Gedanke ließ einen wahrhaftig frösteln. Zum ersten Mal wurde Peter vollkommen klar, dass sie in diesem Krieg auf der falschen Seite standen. Über ihm selbst brauten sich die finsteren Wolken der in ein oder zwei Jahren bevorstehenden Einberufung zusammen. Er hatte sich noch nicht entschieden, welcher Waffengattung er

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