Ausländer
würde er einer von ihnen werden. Er würde sich daran gewöhnen müssen.
Sein ganzes Leben lang hatte er sich in Polen fehl am Platz gefühlt. Obwohl er dort geboren war und Polnisch wie ein Einheimischer sprach, hatte er Sticheleien auf dem Schulhof erdulden müssen, wo man ihn als »Adolfki« hänselte. Was jetzt geschah, würde ihnen schon noch das Grinsen aus ihren dummen Gesichtern vertreiben. Er fuhr nach Deutschland in ein besseres Leben, sie aber blieben in Polen zurück, als Sklaven in ihrem eigenen Land. Das munterte ihn auf, obwohl er sich immer ein wenig schuldig fühlte, wenn er solche Dinge dachte.
Nach zwanzig Minuten fuhr der Zug weiter. Piotr war nie weiter westlich als Łódź gewesen und daher sehr neugierig auf alles, was er jetzt zu sehen bekommen würde. Als sie das alte Deutschland erreichten – das Gebiet, das schon vor der Invasion von 1939 Deutschland gewesen war –, veränderte sich dieLandschaft schlagartig. Die Felder und Bauernhöfe, die vorbeizogen, wirkten gut gepflegt und ordentlich. Dörfer und Städte zeigten keinerlei Kriegsspuren. Hier herrschten Wohlstand und Überfluss.
In Litzmannstadt teilte ihm Fräulein Spreckels mit, dass zwanzig weitere Jungen zugestiegen seien, die in das Lebensborn -Heim nach Klosterheide reisten. »Möchtest du sie kennenlernen?«
Piotr zuckte mit den Achseln. Er war ganz zufrieden damit, aus dem Fenster zu starren. Aber vielleicht langweilte sie sich ja. Sie führte ihn in einen anderen Waggon und stellte sich den Schwestern vor, die mit den Jungen reisten, und den beiden Soldaten, die sie bewachten.
»Guten Tag«, sagte Piotr zu den Jungen. Sie erwiderten seinen Gruß langsam und stockend. Er fühlte sich unbehaglich und verfiel unwillkürlich ins Polnische. »Dzień dobry«, sagte er, »Guten Tag.«
Sofort sprang einer der Soldaten auf und hob die Hand, um ihn zu schlagen. Aber Fräulein Spreckels trat dazwischen und herrschte den Mann an, sich wieder zu setzen. Dann wandte sie sich an Piotr. »Vergiss nicht, dass du kein Polnisch sprechen darfst«, sagte sie scharf.
Piotr lief rot an. Doch dann stieg Zorn in ihm auf. Natürlich mussten sie Deutsch lernen, wenn sie dort leben sollten. Aber was war hier und jetzt falsch daran, mit diesen Jungen Polnisch zu sprechen? Die Frage lag ihm auf der Zunge, aber dann dachte er an das schreckliche Waisenhaus, aus dem er entkommen war, und hielt den Mund.
Gewalt lag in der Luft. Ein paar Jungen sahen verängstigt aus, andere wirkten trotzig. Die Lippen stur zusammengepresst,funkelten sie jeden böse an, damit er es bloß nicht wagte, sie anzusprechen. Aber die meisten Jungen schwiegen wie Piotr, weil sie auf der Hut waren. Jegliche Hoffnung auf eine Unterhaltung verflüchtigte sich wie der Dampf der Lokomotive.
Fräulein Spreckels führte Piotr in ihren eigenen Waggon zurück. Beide waren erleichtert, nicht mehr in der Nähe dieses brutalen Soldaten zu sein. »Du musst vorsichtig sein«, flüsterte sie nachdrücklich. »Ich weiß, du hast dir nichts dabei gedacht, aber du hättest dich und die anderen Jungen in böse Schwierigkeiten bringen können.«
Der Vorfall hatte ihnen die Stimmung verdorben, und so verbrachten sie die nächsten Stunden in unbehaglichem Schweigen.
Kapitel vier
Während der Zug weiterratterte, dachte Piotr über das Land nach, das er hinter sich ließ. In den beiden Jahren vor dem Tod seiner Eltern hatte er miterlebt, wie das Leben für gewöhnliche Polen aussah. Da Piotr und seine Familie nach der Besetzung Polens durch die Wehrmacht als Deutsche eingestuft worden waren, hatte man sie besser behandelt als ihre polnischen Nachbarn. Aus Pan und Pani Bruck waren Herr und Frau Bruck geworden. Sie betrieben weiter ihre Landwirtschaft und wurden für ihre Erzeugnisse bezahlt. Die polnischen Bauern, die sie kannten, waren zusammengetrieben worden … und man hatte sie fortgebracht. Wohin, das wusste niemand. Die Landarbeiter, die geblieben waren, arbeiteten jetzt für die neuen Gutsbesitzer aus Deutschland.
Die Geschäfte waren für die Brucks so gut gelaufen, dass sie sich ein neues Auto leisten konnten. Die Erinnerung daran trieb Piotr die Tränen in die Augen. Sein Vater war auf das Auto mächtig stolz gewesen.
Immer wenn Piotr an seine Eltern dachte, schienen schwarze Wassermassen auf ihn zuzustürzen und ihn mit sich zu reißen. Er stellte sich seinen Vater vor, groß und schweigsam, mit einem Schopf dichten schwarzen Haars. Er war ein abweisender Mensch gewesen, und
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