Ausländer
nicht, dass du durch das Raster gefallen bist. Erzähl mir jetzt, was mit deinem Vater und deiner Mutter geschehen ist.« Er klang langsam verärgert.
»Meine Eltern kamen in der Nacht der sowjetischen Invasion ums Leben. Sie waren Freunde besuchen gegangen. Es war das erste Mal, dass sie beschlossen hatten, auszugehen und mich allein zu Hause zu lassen. Mein Vater sagte: ›Du bist jetzt dreizehn, Piotr. Wir vertrauen dir. Außerdem hast du ja Solveig‹ – das ist unsere Colliehündin –, ›die auf dich aufpasst.‹«
Piotr merkte, dass der Doktor aufgehört hatte, sich Notizen zu machen, und ihn ungeduldig anstarrte. Natürlich – das waren überflüssige Informationen. Piotr kürzte seine Geschichte ab. »Sie sind nicht zurückgekommen. Und eine Woche später wurde ich ins Waisenhaus von Warschau gebracht.«
Der Doktor kam sofort zur Sache.
»Einige der Soldaten wollen dich hier als Übersetzer behalten, aber ich denke, du hast etwas Besseres verdient. Ich werde empfehlen, dass wir dich ins Reich zurückbringen und eine gute deutsche Familie für dich suchen, die gern einen guten deutschen Sohn adoptieren will. Ich kenne eine und werde umgehend mit ihr Kontakt aufnehmen.«
»Und was passiert mit dem Bauernhof?«, fragte Piotr.
»Hast du Geschwister? Irgendwelche Verwandte?«
»Ich habe mütterlicherseits Cousinen und Tanten und Onkel, aber die sind alle in Deutschland«, sagte Piotr.
»Kennst du sie gut?«
»Nein. Es gab einen schrecklichen Familienstreit, als meine Mutter den Hof erbte. Die übrige Familie hat danach nicht mehr mit ihr gesprochen. Ich habe keinen von ihnen je kennengelernt.«
»Wir werden festlegen müssen, wer für den Hof verantwortlich ist, bis du volljährig bist«, sagte der Doktor. »Dann, wenn du alt genug bist, wirst du den Besitz übernehmen.«
Piotr war entgeistert. Das alles war zu unbegreiflich, um es auf einmal verdauen zu können. Gestern noch war er in einem armseligen Waisenhaus halb verhungert und hatte in einem Schlafsaal mit achtzig Betten geschlafen. Und jetzt bot man ihm ein völlig neues Leben an. Piotr mochte zwar die Art des Doktors nicht, aber es schmeichelte ihm, dass er etwas Besonderes sein sollte. Vielleicht konnte er sich ja doch mit einem Leben in Deutschland anfreunden. Plötzlich konnte er seine Abreise kaum mehr erwarten.
Mehrere Wochen war Piotr der Vorzeigeschüler des Sammelzentrums. Er wusste von Anfang an, dass er dort nicht lange bleiben würde. Die übrigen Jungen würden sich einer langwierigen Prozedur der »Germanisierung« unterziehen, die deutsche Sprache lernen und sich das Slawische austreiben lassen müssen. Piotr hatte dies nicht nötig.
Seit dem Morgen ihrer Selektion war es den Jungen verboten, Polnisch zu sprechen, und einige erhielten vor den Augen aller anderen mit einem Gürtel Schläge auf den Hintern, weil sie weiterhin in ihrer Muttersprache geredet hatten. Es würden schwere Monate für sie werden.
»Polnisch ist eine Sprache, die nur für Sklaven taugt«, hatte Doktor Fischer am Ende jenes ersten Tages verkündet. »Ihr seid deutscher Abstammung und werdet von der Volksgemeinschaft zurückgeholt, also werdet ihr ausschließlich Deutsch sprechen.«
Die Kinder wurden gemäß ihren Vorkenntnissen in Klassen eingeteilt. Eifrige studentische Freiwillige, die mit dem Zug frisch aus Berlin eingetroffen waren, begannen damit, ihnen Deutsch beizubringen. Nur Piotrs Deutsch befand man für so gut, dass er keinen weiteren Unterricht benötigte.
Während die anderen Deutschunterricht hatten, durfte er im Schlafsaal bleiben oder in den Garten gehen, um zu lesen. Fasziniert von der Zeitschrift Signal las er, dass die Wehrmacht das 1939 von den Sowjets eingenommene Ostpolen erobert und jetzt die Ukraine besetzt hatte. Inzwischen war sie bereits auf halbem Weg nach Moskau. Die Zeitschrift zeigte Fotos von jubelnden Bauern, die Kreuze und Ikonen hochhielten, um die lächelnden Soldaten willkommen zu heißen, die durch ihre Dörfer marschierten.
Wenn die anderen Kinder aus dem Unterricht zurückkamen, versammelten sich die Jüngeren um Piotr, um ihm ihre neu gelernten Wörter vorzutragen. »Eins, zwei, drei … vier … fünf«, plapperten sie, und Piotr korrigierte ihre Aussprache.
Der Junge, der ihn am ersten Tag geschlagen hatte, Feliks, war nur zwei Wochen da gewesen. Nicht bereit, sich mit seinem Schicksal abzufinden, war er zweimal weggelaufen, von den Soldaten jedoch wieder eingefangen und vor aller Augen verprügelt
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