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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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Deng Xiaoping, plötzlich und unerwartet so viel Kraft, daß es gelang, die maoistischkommunistischen Strukturen zu durchdringen, die ökonomischen Funktionen tiefgreifend zu verändern und dadurch die Lebensbedingungen der chinesischen Massen gewaltig zu verbessern. Solche Erkenntnisse kann man gewiß auch zu Hause gewinnen und durch Lesen und Nachdenken vertiefen; aber die an Ort und Stelle gewonnenen Eindrücke sind im Vergleich dazu viel unmittelbarer und prägnanter. Und jede meiner Reisen nach Ostasien – neben China standen oft auch Japan und Korea auf dem Programm – hat meinen Respekt vor den dortigen Kulturen weiter wachsen lassen.
    Um aus diesem einleitenden Kapitel ein vorläufiges Fazit zu ziehen: Ein Politiker muß lernen, fremde Menschen zu fragen und ihre Antworten zu wägen, sonst bleibt er in seinen Vorurteilen gefangen. Zuhören zu können ist eine Tugend, die jedem Politiker dringend zu wünschen ist.

II
AUS DER GESCHICHTE
LERNEN

Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts
    Irgendwann im November 1945 sollte die hamburgische Universität wieder eröffnet werden. Wie die ganze Stadt, so war auch die Universität weithin zerstört. Der Vorlesungsbetrieb war deshalb behelfsmäßig auf allerlei halbwegs hergerichtete andere Gebäude verteilt. Mit etwa zweihundert jungen Männern, die meisten von uns in Uniformreste gekleidet, von denen wir die Hoheitsabzeichen entfernt hatten, saß ich auf den Stufen eines Auditoriums im Völkerkundemuseum und wartete – die Vorlesung war »c. t.« angekündigt worden – auf den Ablauf der akademischen Viertelstunde.
    Ich war fast siebenundzwanzig Jahre alt, mein Abitur lag bald neun Jahre zurück. Lange Jahre, in denen ich als Wehrpflichtsoldat gedient hatte, davon fünfeinhalb Jahre im Krieg. Als Soldaten hatten wir mancherlei erlebt, mancherlei Ängste überstanden, wir hatten schreckliche und aufwühlende Erfahrungen gesammelt, aber auch Solidarität und Kameradschaft kennengelernt. Wir waren längst voll erwachsen. Manche waren verheiratet, einige hatten bereits Kinder. Das Wichtigste aber: Wir waren davongekommen. Jetzt sollte endlich das normale Leben beginnen, wenn es sich zunächst auch nur um die allerersten Anfänge einer beruflichen Ausbildung handelte. Man redete miteinander, halblaut, aber voller Zuversicht, erste Bekanntschaften wurden begründet, Adressen ausgetauscht.
    Plötzliche Stille. Ein kleiner, weißhaariger alter Herr schritt mit Würde auf das Podium zu, um seine Einführung in das Römische Recht zu beginnen. Ich habe in über sechs Jahrzehnten die Worte nicht vergessen, mit denen der Professor der juristischen Fakultät Leo Raape seine Vorlesung begann: »Meine Herren! Ich bin erschüttert, Sie wieder in der Heimat zu sehen.«
    In den folgenden Tagen und auch manchmal in späteren Jahren habe ich mich gefragt: Was hat er mit diesem ihm aus dem Herzen kommenden und uns ehemaligen Soldaten zu Herzen gehenden Wort gemeint? Wollte er seine Erschütterung über den Krieg ausdrücken? Oder vielleicht nur seine Erschütterung über den Ausgang des Krieges? War er glücklich darüber, uns wohlbehalten »wieder in der Heimat zu sehen«? Oder schwang doch ein leiser Vorwurf mit? In den ersten Nachkriegsjahren habe ich einige Professoren näher kennengelernt, die – ihre in der Nazi-Zeit begonnene Karriere verschweigend – die vor ihnen sitzenden und von ihnen abhängigen kriegsgedienten Studenten sehr überheblich behandelten; solche Professoren haben mir nur geringen Respekt abgefordert. Aber Leo Raape, der erste Professor in meinem Leben, war von anderem Schlag. Ich glaube, sein Wort war Ausdruck elementarer Mitmenschlichkeit. So will ich ihn jedenfalls in Erinnerung behalten.
    Kameradschaft, Solidarität, Fraternité, Brüderlichkeit – es gibt viele ähnliche Worte, jedes hat einen etwas anderen Beiklang, aber sie alle meinen dasselbe: Mitmenschlichkeit. Daß es immer wieder auch Menschen gegeben hat, die einem beistanden, das war die beste, ja die allein beglückende Erfahrung, die unsereiner aus der Nazi-Zeit und aus dem Krieg mitgebracht hatte.
    Sechzig Jahre später saßen wir einmal in drei Generationen zusammen: mein Bruder und ich, dazu unsere Frauen, unsere Töchter und die Enkeltöchter. Die lange schon erwachsenen Enkeltöchter stellten die Frage nach dem Sinn des Lebens, nach einer Orientierung für das eigene Dasein. Uns Alten kam der Krieg in Erinnerung: die Nächte in den Bunkern, wo man mit unbekannten Menschen

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