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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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zusammengepfercht saß, das Verbinden eines schwerverletzten Kameraden, die Obhut für fremde Kinder. Und ich dachte: Die Pflicht zur Mitmenschlichkeit, das ist die Antwort auf die Sinnfrage.
    Wenn ich mich heute frage, was haben wir aus dem zerstörerischen Krieg gelernt, was aus der mörderischen Nazi-Zeit, was aus dem Fehlschlag des Weimarer Demokratie-Versuchs, welche Lehren ziehen wir aus der Ära des anmaßenden Wilhelminismus, aus Bismarcks reaktionärer, machtorientierter Innenpolitik, dann komme ich im Kern auf die gleiche Antwort. Freilich ist die Pflicht zur Mitmenschlichkeit nicht die einzige Schlußfolgerung, die wir aus der deutschen Geschichte ziehen können. Es gibt vieles, was aus unserer Geschichte zu lernen ist.
    Eine der Bedingungen dafür, daß wir aus der Geschichte lernen, ist zunächst einmal die Kenntnis der Geschichte – jedenfalls die Kenntnis des für unsere eigenen Lebensumstände, für unsere Arbeit und unseren Verantwortungsbereich wichtigen Teils der Geschichte. Die meisten Menschen kennen nur einen kleinen, überdies subjektiv gefärbten Ausschnitt aus der Geschichte, ihre Kenntnis ist in der Regel auf die Zeitspanne ihres eigenen Lebens beschränkt; dazu mag ein Weniges von dem kommen, was sie von den Eltern oder in der Schule gehört, in der Zeitung gelesen oder im Fernsehen gesehen haben. Das alles sind nur Partikelchen, die sich in ihrem Bewußtsein aber doch zu einem Gesamtbild verbinden – einem Gesamtbild, das freilich unvollkommen und unzureichend ist.
    Wenn wir als Wähler zu einer politischen Entscheidung aufgerufen werden, sind es vornehmlich unsere eigenen, manchmal sehr egoistischen Interessen, die unsere Entscheidung bestimmen. Hinzu treten Sympathien und Antipathien, Affekte und Stimmungen; deshalb kommt die Entscheidung bisweilen erst in der Kabine zustande, in der ein Wahlzettel angekreuzt werden muß. Das war schon bei der Volksabstimmung oder beim Ostrazismus im klassischen Athen nicht anders. Aber auch die Menschen, welche zur Wahl stehen, die bisher Regierenden ebenso wie die Kandidaten der Opposition, sie alle gehen mit wenigen Ausnahmen von sehr partiellen Erfahrungen aus, wenn sie Entscheidungen treffen. Auch ihr Geschichtsbewußtsein ist in hohem Maße eingeschränkt. Ich habe herausragende Sozialpolitiker kennengelernt, denen alle sozialpolitischen Entwicklungen seit Bismarck oder Beveridge geläufig waren, nicht aber die gesellschaftlichen und politischen Umstände, denen sich diese Innovationen verdankten. Ich erinnere mich an marxistische Politiker, für die alle bisherige Geschichte – bis zurück in das antike Athen und darüber hinaus – lediglich aus Klassenkämpfen bestand und die aus dieser vermeintlich grundlegenden Erkenntnis ihre sämtlichen politischen Schlußfolgerungen zogen. Überall in der Welt habe ich Politiker getroffen, die an außenpolitischen und geostrategischen Entscheidungen beteiligt waren oder beteiligt sein wollten, die weit über die Grenzen ihres Landes hinaus wirkten, ohne daß sie als handelnde Personen von den betroffenen Völkern und Staaten genug wußten – fast nichts von deren Geschichte und kaum etwas von deren gegenwärtigen Bedürfnissen und Interessen.
    Im Laufe des 20. Jahrhunderts und besonders gegen dessen Ende haben die rasante Vermehrung der Weltbevölkerung und die ebenso rasante Ausbreitung der modernen Verkehrsmittel und der Telekommunikation die Staaten der Welt und ihre Volkswirtschaften eng miteinander verflochten und voneinander abhängig gemacht. Die meisten Menschen sehen die Welt jedoch nach wie vor aus national-egozentrischer und national-egoistischer Perspektive. Ob in Amerika oder China, in Rußland oder Frankreich oder Deutschland, fast überall in der Welt herrscht in der öffentlichen Meinung ebenso wie in der politischen Klasse ein national beschränktes Verständnis vor.
    In den meisten Staaten haben es die Historiker bisher versäumt, der heimischen Gesellschaft zumindest in Umrissen ein Bild von der Geschichte ihrer Nachbarn und der Geschichte jener Völker und Staaten zu vermitteln, mit denen man es vornehmlich zu tun hat. Während die Medizin, die Naturwissenschaften insgesamt, die Künste, während Handel, Verkehr und Finanzwelt sich internationalisieren und vernetzen, verharrt das Geschichtsbewußtsein der Nationen weitgehend in den jeweiligen nationalen Grenzen. Das gilt auch für uns Deutsche.
    Es sei die Aufgabe der Geschichtswissenschaft nachzuweisen, »wie es eigentlich gewesen

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