Ausser Dienst - Eine Bilanz
Hume, Adam Smith oder David Ricardo, Thomas Jefferson oder die Autoren der amerikanischen »Federalist Papers«, die zu politischen Erziehern ihrer Nationen wurden, finden in der jüngeren deutschen Geschichte kaum Entsprechungen. Erst nach dem letzten Krieg sind Karl Dietrich Bracher, Theodor Eschenburg, Wilhelm Hennis, Dolf Sternberger und andere als öffentlich wirksame Erzieher zur Demokratie hervorgetreten. Das deutsche Defizit ist freilich keineswegs verwunderlich vor dem Hintergrund von vier Staatszusammenbrüchen im Laufe eines einzigen Jahrhunderts: 1918/19 das Ende des Kaiserreichs, 1930/33 der Niedergang der Weimarer Republik, 1945 der Kollaps des Dritten Reiches und schließlich 1989/90 das Zerbrechen der DDR.
Daß 1990 die staatliche Wiedervereinigung geglückt ist (wobei allerdings die volle ökonomische Vereinigung noch weit zurückhängt), verdanken wir im wesentlichen den revolutionären Vorgängen im Osten Mitteleuropas, der deutlichen Schwäche der Sowjetunion und besonders der internationalen Staatskunst der Regierung in Washington unter George Bush sen. Dagegen blieb der Anteil der deutschen Politiker relativ beschränkt, Bundeskanzler Kohl allein hätte sich gegen den Widerstand Frankreichs und Englands nicht durchsetzen können. Immerhin waren auf deutscher Seite schon früh wichtige Weichen gestellt worden. Dazu gehörte die eindeutige Westbindung der alten Bundesrepublik ebenso wie ihre Ostpolitik nach 1969; dazu gehörte die westdeutsche Bereitschaft, das vornehmlich von Frankreich ausgehende Angebot der europäischen Integration anzunehmen; und ohne den im Westen wie im Osten unseres Volkes elementaren Willen, festzuhalten am Bewußtsein der Einheit der Nation, wäre die Wiedervereinigung nicht zustande gekommen. Wir Deutschen haben im Lauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts tatsächlich einige wichtige Lehren aus unserer katastrophenreichen Geschichte in der ersten Hälfte gezogen. Wir haben etwas aus der Geschichte gelernt.
Zwar hat Deutschland mit mehreren ungelösten Problemen und mit Defiziten zu tun – ich komme im folgenden darauf zurück – , aber alles in allem sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts unsere Nation und unser Staat in einer besseren und solideren inneren und äußeren Verfassung als jemals zuvor. Diese Leistung, die kaum ein Angehöriger der ersten Nachkriegsgenerationen auch nur für möglich gehalten hat, hätten wir Deutschen allein und nur aus eigener Kraft nicht zustande gebracht. Sie wäre ohne die Einbettung in die Europäische Union und in das Nordatlantische Bündnis, ohne die Hilfen durch unsere Nachbarn und durch die westlichen Siegermächte des Zweiten Weltkriegs nicht möglich gewesen. Der moralische und politische Absturz durch Hitler und seinen totalen Krieg ist tiefer und zerstörerischer gewesen als alle Katastrophen, die Deutschland seit dem Dreißigjährigen Krieg erlebt hatte. Trotzdem haben wir die nationale Einheit erreicht. Es gibt keine Grenz- und Gebietsprobleme mit unseren Nachbarn. Es gibt auch keinen Separatismus. Es gibt jedoch ein allen Schichten und Klassen der Gesellschaft weithin gemeinsames Bewußtsein von der Gültigkeit des demokratischen Prinzips, des rechtsstaatlichen Prinzips, des föderativen Prinzips und des Prinzips der sozialen Gerechtigkeit. Eine derartig breite Übereinstimmung in den grundlegenden und maßgebenden Werten hat es weder zur Kaiserzeit noch in der Weimarer Republik gegeben – und auch noch nicht in den unmittelbaren Nachkriegsjahrzehnten. Zwar herrscht unter den Nachgeborenen vielerlei Kritik und Unzufriedenheit, es gibt mancherlei Verstöße gegen das Prinzip der Solidargemeinschaft, auch grobe Ungerechtigkeiten, und natürlich gibt es Neid. Aber eine geradezu überwältigende Mehrheit der Deutschen empfindet die Bundesrepublik Deutschland heute als ihren Staat und will in keinem anderen leben.
Anders als zu Weimarer Zeiten wollen alle unsere größeren politischen Parteien die Verfassung achten. Sie sind, bei allem Streit und aller Polemik, in ihrer Politik weitgehend vom Geist der Aufklärung geleitet. Ein Kampf zwischen den Kirchen und dem Staat ist nahezu undenkbar. Weder der Staat noch die politischen Parteien haben in der Verteidigung gegen mörderischen Terrorismus das Prinzip des Rechtsstaates verlassen. Erstmalig in unserer Geschichte sind die Streitkräfte und ihre Offiziere innerlich der Demokratie verpflichtet. Wir haben mehrere Regierungswechsel (und auch Koalitionswechsel!) erlebt:
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