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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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ist«, hat Leopold von Ranke 1824 gefordert. Zur gleichen Zeit erklärte Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der preußische Obrigkeitsstaat Friedrich Wilhelms III. sei von Gott gewollt. Etwas später hat Heinrich von Treitschke die deutsche Selbstbeweihräucherung (und den intellektuellen Antisemitismus) auf die Spitze getrieben. Manche späteren Historiker sind ihnen gefolgt (bis hin zum simplifizierenden Hitler-Apologeten Ernst Nolte). Nicht nur die Historiker mit ihren diversen Geschichtsphilosophien haben zu einem diffusen, weil einseitigen Geschichtsbewußtsein beigetragen.Von manchen Theologen und manchen christlichen Würdenträgern wurden wir belehrt, daß die Juden von Übel seien, weil sie Jesus von Nazareth ans Kreuz genagelt haben – wobei sie die geschichtliche Tatsache geflissentlich verschwiegen, daß er selbst ein gläubiger Jude gewesen ist. Marx, Engels und Kautsky haben uns die internationale proletarische Revolution versprochen, mit der alles anders und alles besser werden würde – selbst August Bebel hat an den bevorstehenden »großen Kladderadatsch« geglaubt. Einige der Geschichtsphilosophien, welche die öffentliche Meinung in Deutschland bestimmt hatten, verloren durch den Ersten Weltkrieg an Attraktivität. Nunmehr überwog das Wehklagen über den Versailler Vertrag, und die Historiker beeilten sich, die »Kriegsschuldlüge« geschichtswissenschaftlich zu widerlegen.
    Bis an das Ende des ersten deutschen Demokratie-Versuchs wurde den Deutschen nicht wirksam erklärt, wie denn und warum in England oder in Holland, in Frankreich oder in Skandinavien eine Demokratie funktioniert. Weder die Historiker noch die Staatsrechtler, weder die Soziologen noch die Politiker haben für die öffentliche Meinung in Deutschland die verschiedenen Typen demokratischer Verfassungen, ihre Vorzüge und Nachteile erläutert. Die praktischen Erfahrungen, die unsere Nachbarn mit dieser Regierungsform gemacht hatten, blieben außerhalb des Blickfeldes, die Deutschen konnten davon nicht profitieren. Im Reichstag des Jahres 1919 gab es kaum jemanden, der eigene Kenntnisse und diesbezügliche Erfahrung mitbrachte. Auch wenn zunehmend aufgeklärte Stimmen zu Wort kamen, blieben die politischen Konsequenzen aus, die man hätte ziehen müssen.
    Nach 1930, als der Reichstag entmachtet war, hatten die Lehren von der Demokratie und von den Rechten des einzelnen Staatsbürgers nur noch geringe Chancen. In den zwölf Jahren der Nazi-Diktatur verstummten sie vollends. Bei Hitlers Machtantritt war ich gerade vierzehn Jahre alt geworden – aber bis 1945 habe ich nicht einmal den Begriff Demokratie gekannt.
    Wenn man einmal von der Politik absieht, dann brauchen wir Deutsche uns unserer Leistungen in den Jahrhunderten seit Beginn der europäischen Aufklärung nicht zu schämen. Zwar war es eine nationalistische Übertreibung, das Wort des Engländers Edward George Bulwer-Lytton (1837 formuliert) von den Deutschen als »Volk der Dichter und Kritiker« zu übernehmen und selbstgefällig mit »Volk der Dichter und Denker« zu übersetzen. Aber von Christian Wolff, Gottfried Wilhelm Leibniz, Gotthold Ephraim Lessing und Immanuel Kant über Schiller, Herder, Goethe und Heine bis hin zu Theodor Fontane und den Brüdern Heinrich und Thomas Mann haben wir Deutschen achtbare Beiträge zur europäischen Kultur im weitesten Sinn geleistet. Das gilt auch für Friedrich den Großen, für Karl vom Stein, Karl August von Hardenberg, Gerhard von Scharnhorst und die Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt in Preußen oder für Maximilian von Montgelas in Bayern – und auch für das allerdings ergebnislose Aufbegehren einiger Demokraten in den Jahren 1848/49. Es gilt für die Altertumswissenschaft, die Sprachwissenschaft, die Kunstwissenschaft; für zahlreiche Errungenschaften der Industrialisierung ebenso wie für die Emanzipation der Arbeiterbewegung; es gilt für die Malerei der deutschen Romantik wie für den deutschen Expressionismus und natürlich für die deutsche Musik. Alle diese Leistungen haben zugleich das Bewußtsein der Deutschen von sich selbst geprägt – quer durch alle gesellschaftlichen Klassen.
    Allerdings, und dies ist eine entscheidende Einschränkung: Die Erziehung zu bewußten Staatsbürgern, zu dem, was die Griechen das zoon politikon nannten, hat uns immer gefehlt. Das Staatsdenken, auch das ökonomische Denken hat in Deutschland nie sehr viel gegolten. Gestalten wie Rousseau oder Montesquieu, John Locke oder David

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