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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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1966, 1969, 1982, 1998 und abermals 2005 – die überwältigende Mehrheit der Deutschen begreift solche Wechsel heute als Teil der demokratischen Normalität. Kein vernünftiger Mensch muß deshalb den »Untergang des Vaterlandes« oder die »Wiederkehr des Faschismus« befürchten. Die schweren, von weltanschaulichen Vorurteilen und Verdächtigungen inspirierten Wahlkämpfe früherer Jahrzehnte gehören offensichtlich der Vergangenheit an; an ihre Stelle ist eine erheblich sachlichere Auseinandersetzung getreten.
    Zwar werden die Wahlkämpfe in Deutschland auch künftig von Unfairneß, Unwahrheiten und Übertreibungen überschattet sein, aber sie werden sich von den Wahlkämpfen in unseren demokratisch regierten Nachbarstaaten nicht sonderlich unterscheiden. Nirgendwo auf der Welt finden Wahlkämpfe auf einer moralischen Hochebene statt. Wenn sie bei uns inzwischen die Sümpfe der Tiefebene verlassen haben, ist das ein Verdienst vieler einzelner; aber weniger die Bischöfe, die parlamentarischen Führer, die Kanzler oder Kanzlerkandidaten ragen dabei sonderlich hervor, sondern eher die Bundespräsidenten, die ihr Amt als Staatsoberhaupt gelassen, aber mit großem Verantwortungsbewußtsein ausgeübt haben und auf Ausgleich bedacht waren.
    Eine Beobachtung zum Sprachgebrauch der Deutschen sei hier am Rande vermerkt. Ich weiß, daß die Worte Führen und Führung wegen des nationalsozialistischen Führerkults in Deutschland recht ungern gebraucht werden, aber es gibt in unserer Sprache kein anderes Wort, das besser geeignet wäre. Anders als in England oder den USA, wo das Wort »leader« selbstverständlich ist, vermeiden wir immer noch das Wort Führer. Aber ein Bundeskanzler muß Führer der Regierung und des Staates sein – wie anders könnte er sonst die »Richtlinien der Politik« bestimmen, wozu ihn das Grundgesetz berufen hat? In den Unternehmungen redet man vom Chef, vom Vorstandsvorsitzenden oder englisch vom CEO (Chief Executive Officer), ein Schiffsführer heißt von alters her Kapitän. So wie ein Unternehmen, eine Stadt oder ein Land hat auch eine politische Partei, eine Bundestagsfraktion und jede Regierung Führung nötig. Die Opposition hat ebenfalls Führung nötig – und an dem Wort Oppositionsführer hat kein Deutscher je Anstoß genommen. Ich habe mir als Kanzler einmal den Scherz erlaubt, mich den »leitenden Angestellten« der Bundesrepublik zu nennen; die meisten Leute fanden das nicht gut.
    Sieht man von wenigen rühmlichen Ausnahmen ab – ich nenne an erster Stelle Kurt Schumacher, Konrad Adenauer und Theodor Heuss–, bestand die erste Generation der deutschen Nachkriegspolitiker zu einem großen Teil aus ehemaligen Nazis und ehemaligen Mitläufern. Von Karl Schiller über Kurt Georg Kiesinger bis hin zum späteren Bundespräsidenten Lübke handelte es sich um Leute, die sich in der Zeit des »Dritten Reiches« angepaßt hatten. Dennoch hatte Deutschland mit seinen politischen Führern nach 1949 alles in allem ziemlich viel Glück. Dabei denke ich nicht nur an die Regierenden oder an einige herausragende Ministerpräsidenten in den Ländern, sondern auch an jene Spitzenpolitiker, die wie Ernst Reuter und Fritz Erler oder Rainer Barzel und Hans-Jochen Vogel als Führer oder Sprecher der Opposition durch ihre kritische Argumentation und ihren jeweils besonderen Stil zur Entwicklung der politischen Landschaft wesentlich beigetragen haben. Glück hatten wir auch bei der Entwicklung einer kritischen, zugleich wegweisenden politischen Publizistik, vor allem in den Medien; einige Namen habe ich bereits genannt – hinzufügen will ich ihnen an dieser Stelle in dankbarer Erinnerung Paul Sethe, Rudolf Augstein und Marion Gräfin Dönhoff.
    Sie alle sind leidenschaftliche und streitbare Menschen gewesen, sie haben vielerlei Zustimmung gefunden und vielerlei Abneigung hervorgerufen. Manch einem zeitgenössischen Beobachter gingen die Auseinandersetzungen mitunter zu weit. Aber die spießbürgerliche Sehnsucht nach politischer Harmonie hat letztlich die große Stärke des demokratischen Prinzips doch nicht verdeckt. Lernfähigkeit und Anpassungsfähigkeit der Demokratie können nur gedeihen in einem Klima, in dem Diskussion, Konflikt und Streit selbstverständlich sind. Kultureller und politischer Fortschritt bedürfen des Konfliktes. Demokratie ist weniger ein Zustand als vielmehr ein Prozeß. Diese Erkenntnis ist im Kaiserreich weder dem Adel und dem Militär noch dem Bürgertum oder der

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