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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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immer noch, ob es im kulturellen deutschen Erbe spezifische Anlagen gegeben haben könnte, die wir in anderen Nationen nicht finden, die aber den Boden dafür bereiteten, daß Zehntausende deutsche SS-Männer, Gestapo-Beamte, Soldaten und staatliche Funktionäre zu Mördern und Beihelfern zum Mord wurden.
    Eine klare oder gar eine einfache Antwort auf diese Frage wird es nicht geben. Zwar hat sich die Debatte in den letzten Jahren einigermaßen versachlicht. Von der ideologisch angeheizten Hysterie der siebziger und achtziger Jahre ist heute deutlich weniger zu spüren, so wie auf der anderen Seite die demonstrative Borniertheit seltener geworden ist. Die Thesen von der »kollektiven Schuld« aller Deutschen und vom verbrecherischen Charakter der gesamten Wehrmacht habe ich aus Überzeugung immer verworfen; umgekehrt konnten mir aber auch die Behauptung von der »Ehre« der deutschen Soldaten und der generelle Freispruch der Wehrmacht von jeglicher Verantwortung keineswegs einleuchten. Die meisten der in der Nazi-Zeit lebenden Deutschen waren, ob als einzelne persönlich schuldig oder unschuldig, in das Unheil verstrickt. Millionen und Abermillionen haben ihre Väter und Brüder im Krieg verloren, ihre Mütter und Geschwister und dazu noch all ihre Habe.
    Aber wer von den Nachgeborenen kann sich in die seelische Befindlichkeit unserer Generation einfühlen, die in den Kriegsjahren vor allem eines hatte: Angst? Angst vor den Bombenteppichen, Angst vor schwerer Verstümmelung, Angst vor sowjetischer Gefangenschaft, aber genauso Angst vor der Gestapo, vor der SS, vor dem Kriegsgericht, vor dem Nazi-Vorgesetzten. Die erdrükkende Propaganda des »Dritten Reiches« trug ihrerseits erheblich zur Abstumpfung bei. Hinzu kam die Verrohung gegenüber dem Feind, die jeder Krieg zwangsläufig mit sich bringt. Am Ende hat wohl auch der seit Generationen eingeübte Gehorsam eine wichtige Rolle gespielt. Ich erwähne diese Faktoren nicht, um die Deutschen zu entlasten, sondern um zu zeigen, wie ungeheuer schwer es ist, zu einem abschließenden Urteil zu gelangen.
    Es steht uns Deutschen nicht zu, die Juden in der Welt zur Versöhnung aufzurufen. Ich vergesse nicht den Satz, den Martin Buber 1953 in Hamburg öffentlich ausgesprochen hat: »Was bin ich, daß ich mich vermessen könnte, hier zu ›vergeben‹?« In der gleichen Rede sagte er später: »Mein der Schwäche des Menschen kundiges Herz weigert sich, meinen Nächsten deswegen zu verdammen, weil er es nicht über sich vermocht hat, Märtyrer zu werden.« Dieser Satz Martin Bubers ist mir noch immer Trost.
    Aufgrund unserer Verantwortung für das, was den Juden Europas zwischen 1939 und 1945 von den Deutschen an Leid zugefügt wurde, wird unser Verhältnis zum Staat Israel stets ein anderes sein als unser Verhältnis zu allen übrigen Nationen. Das Wort von der guten Nachbarschaft, die uns Deutschen geboten ist, kann für unser Verhältnis zu dem jüdischen Staat nicht ausreichen; dieses ist ungleich diffiziler und komplexer als unsere Beziehung zu allen Nachbarn im engeren und weiteren Sinn. Mit Recht sind sämtliche Regierungen der alten und ebenso der wiedervereinigten Bundesrepublik gegen Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit eingetreten und haben sich für die Selbstbehauptung des Staates Israel eingesetzt. Dabei muß es bleiben.
    Ob Golda Meir oder Moshe Dayan, Teddy Kollek oder Yitzhak Rabin: Keiner dieser von mir bewunderten politischen Führer Israels hat mich entgelten lassen, daß ich Deutscher bin. Allerdings gab es und gibt es auch israelische Politiker, die jedem Deutschen mit tiefem Argwohn begegnen, und sogar einige, die Deutschland der Zusammenarbeit mit den arabischen Feinden Israels verdächtigen.
    In diesem Zusammenhang möchte ich die politische Klasse unseres Landes davor warnen, sich in den dringend notwendigen, aber seit sechzig Jahren vergeblich angestrebten Ausgleich zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn einzumischen. Auch nur den Anschein sollten wir vermeiden. Denn zum einen haben wir im Machtgefüge des Nahen und Mittleren Ostens keinerlei Hebel zur Verfügung, um den Friedensprozeß zu beeinflussen. Zum anderen ist unsere Glaubwürdigkeit auf beiden Seiten stark beeinträchtigt: Viele Palästinenser und die Araber insgesamt nehmen uns Deutschen eine unparteiische Maklerrolle nicht ab; sie glauben, wir stünden von vornherein auf der Seite Israels. Viele Israelis gehen ihrerseits davon aus, daß wir aufgrund des Holocaust zur

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