Ausser Dienst - Eine Bilanz
Arbeiterbewegung möglich gewesen; später haben Nazis und Kommunisten versucht, durch ihre Diktatur wenigstens äußerliche Harmonie zu erzwingen.
Wenn wir dagegen heute endlich verstanden haben, daß Demokratie immer auch offene Austragung von Konflikten bedeutet, daß es gleichwohl moralische und rechtliche Grenzen für jeen Streit und jeden Kampf gibt, die wir nicht verletzen dürfen, dann haben wir Deutschen tatsächlich einen großen Schritt nach vorn gemacht. Zu Pessimismus ist kein Anlaß.
Die schwerste Hypothek
Bei aller Normalität, zu der die Deutschen nach vielen Irrwegen in ihrer Geschichte während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts endlich gefunden haben, lastet auf unserer Nation eine schwere Hypothek, die kein Deutscher jemals wird tilgen können: der millionenfache Mord an den europäischen Juden. Der Holocaust wird nicht nur unser Verhältnis zu den Juden und zum Staat Israel durch lange künftige Generationen bestimmen; seine Schatten liegen auch über unseren nachbarschaftlichen Beziehungen, denn kaum ein Land in Europa blieb von den Vernichtungsaktionen der Nationalsozialisten gegen die Juden verschont. Auch wenn uns die Integration der Deutschen in die Europäische Union heute als selbstverständlich erscheinen mag, dürfen wir nicht vergessen, daß der Zweite Weltkrieg kein »normaler Krieg« war. Im Laufe der Jahrhunderte haben die europäischen Nationen viele Kriege gegeneinander geführt, darunter auch zahlreiche Angriffskriege zur Erweiterung des eigenen Territoriums. Der Holocaust war jedoch nicht gegen eine bestimmte Nation gerichtet, sondern er war ein Vernichtungskrieg gegen die Juden; dabei handelte es sich nicht um eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen Staaten, sondern um verbrecherischen millionenfachen Mord.
Noch in meiner Schulzeit in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren habe ich von Juden nichts gewußt. Die jüdischen Mitschüler waren normale Klassenkameraden wie alle anderen auch. Erst nach 1945 erfuhr ich, daß mein Schulfreund Helmuth Gerson ein Jude war. Indem Hitler und die Nazis die jüdischen Mitbürger ausgrenzten, machten sie aus ihnen etwas Besonderes. Mein Freund Fritz Stern, 1926 in Breslau geboren und dort in bürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen, hat einmal mit der ihm eigenen Ironie gesagt: »Es war der Führer, der mich zum Juden gemacht hat.«
Im Juli 1980 feierte mein Freund Nahum Goldman in Amsterdam seinen 85. Geburtstag. Er sprach über Juden und Deutsche und erwähnte, daß die klassischen Zionisten Herzl, Nordau und Hess alle auf Deutsch geschrieben haben. Dann kam jene Passage, die mich heute noch zutiefst anrührt. Der Präsident des World Jewish Congress sagte nämlich: »Ich war fünf Jahre alt, als ich nach Deutschland kam. Meine Sprache und meine Kultur sind zuallererst deutsch. Wenn ich liebe, so in Deutsch. Wenn ich hasse, so in Deutsch. Wenn ich träume, so ist es in Deutsch.« Ich war erschüttert und dachte bei mir: Mein Gott, warum hast du den Holocaust zugelassen?
Gott sei gerecht, heißt es, aber ich habe dieses Wort nie wirklich akzeptieren können. Gott hat zu viele und zu große Verbrechen zugelassen. Gerechtigkeit zählt zwar zu den Kardinaltugenden, und die meisten Menschen streben nach Gerechtigkeit. Auch wir Sozialdemokraten haben die Gerechtigkeit den beiden anderen Grundwerten Freiheit und Solidarität an die Seite gestellt. Aber die Geschichte der Menschheit zeichnet sich bisher nicht sonderlich durch Gerechtigkeit aus. In der deutschen Geschichte bedeutet die Ausgrenzung und Entrechtung der Juden nach 1933 den schwersten Verstoß gegen das Gebot der Gerechtigkeit – und darüber hinaus auch gegen das Gebot zur solidarischen Mitmenschlichkeit.
Mit dem furchtbaren Makel des Holocaust werden auch die nachgeborenen Deutschen leben müssen. Es wird ihnen allerdings immer schwerer fallen zu verstehen, wie es zu diesem Kolossalverbrechen gekommen ist. Auch die heute lebenden Deutschen, die sich noch an die Nazi-Herrschaft erinnern, können es sich nur teilweise erklären. Zwar kennen wir inzwischen die lange Geschichte des in Europa weitverbreiteten Antisemitismus einschließlich der unheilvollen Rolle, welche die christlichen Kirchen dabei gespielt haben. Wir besitzen ganze Bücherregale voller Spezialliteratur zu allen möglichen Aspekten der Vorgeschichte und verfolgen mit Interesse die historischen Kontroversen, die in der Öffentlichkeit immer erneut geführt werden. In Wahrheit fragen wir uns aber
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