Ausser Dienst - Eine Bilanz
ehemaligen preußischen Ostprovinzen von der übergroßen Mehrheit der Deutschen als selbstverständlich hingenommen. Marion Dönhoff hat das Wort geprägt: Lieben, ohne zu besitzen. Wir haben aus der Geschichte gelernt. Das läßt mich hoffen, daß wir auch die noch verbliebenen antipolnischen Vorurteile überwinden werden.
Das Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen ist in ähnlicher Weise von gegenseitigen Vorurteilen und Vorbehalten geprägt. Während der langen Zeit der Habsburger Kaiser und ihrer Herrschaft über Böhmen, Mähren und die Slowakei war es selbstverständlich, daß sowohl die Tschechen und Slowaken als auch die Deutsch sprechenden Einwohner sich an Wien orientierten. Der Ausgang des Ersten Weltkrieges und die Begründung der Tschechoslowakei als Staat haben diese Fokussierung beendet. Der Aufstieg des »Dritten Reiches« ließ die Deutsch sprechende Minderheit dann voller Hoffnung auf Berlin schauen, und schon bald betrieb die »Sudetendeutsche Partei« offen den Anschluß an Hitler-Deutschland. Die durch das von Hitler erzwungene Münchener Abkommen vom September 1938 sanktionierte Abtretung der tschechischen Randgebiete an Deutschland, vor allem aber der Einmarsch deutscher Truppen in Prag, mit dem im März 1939 die erste tschechoslowakische Republik beendet wurde, gehören zu den leidvollsten Erinnerungen des tschechischen Volkes und sind allen heute lebenden Tschechen und Slowaken gegenwärtig. Dazu kommen die Erinnerungen an die unter deutscher Herrschaft verübten grausamen Verbrechen in Theresienstadt und Lidice.
Weil die 1945 wieder errichtete Tschechoslowakei östlich des »Eisernen Vorhangs« lag, war die Errichtung einer kommunistischen Herrschaft zwangsläufig. Sie hatte bis 1989 Bestand. Zwei Jahre vor dem sowjetischen Einmarsch 1968, dem Tiefpunkt der Erniedrigung durch Moskau, habe ich in Prag Frantiček Kriegel kennengelernt. Er war Kommunist, aber zugleich ein aufrechter tschechischer Patriot, der mir imponierte. 1968, als Dubček und seine Kollegen in der tschechischen Führung in Moskau zur Kapitulation gezwungen wurden, verweigerte Kriegel als einziger seine Unterschrift. An ihn möchte ich hier erinnern, weil sein Beispiel zeigt, daß es auch unter den Kommunisten Menschen gab, die heldenhaften Widerstand leisteten.
Die heute lebenden Deutschen haben von Vertreibung und Flucht von drei Millionen Deutschen aus der Tschechoslowakei gehört; die meisten unterscheiden jedoch nicht die sudetendeutschen von den übrigen neun Millionen Deutschen, die aus dem Osten Mitteleuropas vertrieben wurden oder von dort flüchten mußten. Die Veteranen der »Sudetendeutschen Landsmannschaft« haben mit ihrer Agitation gegen die Beneš-Dekrete des Jahres 1945 hierzulande nur geringen Einfluß ausüben können; wohl aber haben sie damit tschechische Politiker und Publizisten zur Kritik an Deutschland provoziert. Solche Kritik wird in Deutschland registriert und bisweilen leider unfreundlich beantwortet.
Gegenseitige Irritationen hängen immer auch mit mangelnder gegenseitiger Kenntnis zusammen. Obgleich fast alle deutschen Touristen, die Prag besuchen, von dieser schönen Metropole, vom Hradschin und von der Karlsbrücke begeistert sind, und obschon Václav Havel auch bei uns zu den Symbolfiguren der Wende von 1989/90 zählt, wissen wir wenig über die Tschechen (und noch weniger über die Slowaken). Wir lieben die Musik von Smetana und Dvořák, und einige kennen vielleicht auch den »Braven Soldat Schwejk«; für mich gehört diese wunderbare Figur des Tschechen Jaroslav Hašek zum festen Bestand der europäischen Literatur. Aber die heutige Tschechische Republik ist weit über Musik und Literatur hinaus ein Kernland der europäischen Kultur. Wir Deutschen werden das – so hoffe ich – in Zukunft besser erkennen als bisher.
Wenn ich Frankreich und Polen als unsere wichtigsten Nachbarn bezeichnet habe, so geschah das mit Blick auf unsere gemeinsame Geschichte der letzten Jahrhunderte und auf die große Bedeutung dieser beiden Nationalstaaten. Damit soll keinesfalls angedeutet werden, daß sie gegenüber unseren kleineren Nachbarn Vorrang hätten. Ich bin vielmehr von der Gültigkeit des Völkerrechts und der Satzung der Vereinten Nationen überzeugt, wonach jeder Staat die gleiche Souveränität genießt. Im übrigen hätte die politische Klasse in Deutschland gerade in den letzten Jahren von einigen Kollegen in kleineren Nachbarstaaten lernen können, wie weitsichtige und zugleich
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