Ausser Dienst - Eine Bilanz
mutige Regierungen und Parlamente wirtschafts- und sozialpolitisch erfolgreich mit den Folgen der Überalterung ihrer Gesellschaften und der schnellen Globalisierung umgehen. Ich denke an Wim Kok in den Niederlanden, an Franz Vranitzky in Österreich und an eine ganze Reihe tatkräftiger Politiker in den skandinavischen Staaten. Wir Deutschen haben, ähnlich wie die Franzosen und die Italiener, eine schonungslose Diagnose zu lange hinausgezögert.
Während der fast ein halbes Jahrhundert anhaltenden machtpolitischen Zweiteilung Europas war es für Westdeutsche, zumal für westdeutsche Politiker, sehr viel einfacher, Kontakt mit Österreichern, Holländern oder Dänen zu suchen, als Gespräche jenseits des »Eisernen Vorhangs« zu führen. Wegen der Diktatur in ihrem Land gab es nicht viele, die sich einem persönlichen Gespräch öffnen wollten und konnten. Vielleicht war ein privates Gespräch mit einem Polen, einem Tschechen, einem Ungarn oder gar mit einem Russen für einen in der DDR lebenden Deutschen wegen der beiderseitigen Geheimpolizei noch schwieriger und noch seltener als für einen Bürger der damaligen Bundesrepublik. Ewige Abgrenzungspropaganda und diffamierende Polemik – nicht allein im Osten, sondern auch im Westen! –sorgten für gegenseitige tiefe Abneigung. Es ist leider zu erwarten, daß manche Ressentiments noch einige Zeit andauern werden, begünstigt auch durch die im Osten Mitteleuropas lange Zeit unterdrückten, jetzt wieder an die Oberfläche zurückgekehrten nationalen Traditionen und Instinkte.
Theoretisch mag friedliche Nachbarschaft selbst dann möglich sein, wenn die Nachbarn sich gegenseitig nicht wirklich kennen. Besser ist es ohne Zweifel, wenn man von den Eigenarten, den Empfindlichkeiten und den Neigungen des Nachbarn weiß. Noch besser, wenn man die Herkunft der Nachbarn einigermaßen kennt und weiß, welche Erfahrungen sie in der Geschichte mit uns gemacht haben. Unter diesem Aspekt ist es kein Wunder, daß es zwischen Schweizern und Deutschen kaum irgendwelchen Argwohn gibt; seit Jahrhunderten hat man sich gegenseitig nichts Böses zugefügt.
Etwas erstaunlicher ist schon das gute Verhältnis zwischen den Österreichern und uns. Immerhin liegt der letzte von mehreren Kriegen zwischen Österreich und Preußen nur anderthalb Jahrhunderte zurück. Aber die Waffenbrüderschaft im Ersten Weltkrieg und der Jubel in Wien über den Einmarsch Hitlers und den «Anschluß« 1938 haben längst alle früheren Gegensätze überdeckt. Die Österreicher freilich erinnern sich recht ungern an 1938, ebenso ungern an die vorangegangene kurze Epoche des Austro-Faschismus. Nach 1945 ist die österreichische Geschichte dann sehr viel glimpflicher verlaufen als die deutsche. Österreich blieb nicht nur ungeteilt, es blieb während des Kalten Krieges auch erklärtermaßen neutral. Mancher Außenstehende hat tatsächlich geglaubt, Österreich sei das erste Opfer Hitlerscher Aggression gewesen; Willy Brandt hat dazu den Witz gemacht, es sei seinem Freund Bruno Kreisky gelungen, der Welt Ludwig van Beethoven als Österreicher darzustellen, dafür aber Hitler zum Deutschen zu machen. Abgesehen von dergleichen gelegentlichen Frotzeleien ist das Verhältnis zwischen Deutschland und Österreich gut und unproblematisch.
Auf den ersten Blick scheint das auch für unser Verhältnis zu Luxemburg, Belgien und Holland zu gelten. Unter der Oberfläche spielt jedoch die Erinnerung an den deutschen Überfall 1940 und an die deutsche Besatzung in allen drei Ländern noch immer eine erhebliche Rolle. Belgien war bereits 1914 von den Deutschen überfallen worden. Als meine Frau 1938 mit einigen Studenten, die an den niederdeutschen Dialekten interessiert waren, eine Radtour nach Holland und Belgien unternahm und die Gruppe in einer flämischen Dorfkneipe mit den Wirtsleuten auf Plattdeutsch ins Gespräch kam, verstummten diese ganz plötzlich – als sie nämlich begriffen, daß ihre Gäste Deutsche waren. Ein Jahr später kam dann der Zweite Weltkrieg, der zweite Einmarsch, abermals Besatzung – und die Verschleppung der Juden nach Auschwitz.
Die Deutschen wissen von Belgien wenig. Die einen kennen die flämische Malerei, andere vielleicht noch Felix Timmermans oder Stijn Streuvels. Selbst diejenigen, die wissen, daß es den belgischen Staat erst seit der Abspaltung vom Vereinigten Königreich der Niederlande 1830/31 gibt, haben wenig Kenntnis von den langen Jahrhunderten zuvor. Geläufig ist uns nur Brüssel:
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