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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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Frankreich die Möglichkeit, eine Führungsrolle in Europa zu spielen. Dabei werden Frankreichs Position im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und seine atomare Bewaffnung vorhersehbar ein hohes Gewicht behalten. Innerhalb der EU aber wird Frankreich weiterhin als primus inter pares erscheinen. Falls jedoch die heutige Handlungsunfähigkeit der erweiterten EU anhalten und es deshalb zur Herausbildung eines inneren Kerns kommen sollte, wird es abermals Frankreich sein, das Richtung und Tempo vorgibt.
    Ein gutnachbarliches Verhältnis zu den Polen, zu ihrer Nation und ihrem Staat, bleibt eine der schwierigsten Aufgaben, vor die wir Deutschen gestellt sind. Nicht nur die drei Teilungen Polens wirken nach, welche die Monarchien Rußlands, Preußens und Österreichs am Ende des 18. Jahrhunderts erzwungen haben, und nicht nur die völlige Beseitigung der polnischen Souveränität fast das ganze 19. Jahrhundert hindurch bis ans Ende des Ersten Weltkrieges. Weit stärker noch haften im polnischen Gedächtnis die vierte gewaltsame Teilung durch Hitler und Stalin 1939 und die lange Zeit deutscher Besatzung und rücksichtsloser Ausbeutung. Die Erinnerung an diese Zeit ist verknüpft mit der Tragödie der europäischen Juden, zumal Hitler die Todesfabrik Auschwitz auf polnischem Boden errichtet hatte. Danach kam dann – die fünfte Katastrophe – die von Stalin erzwungene Verschiebung sowohl der östlichen als auch der westlichen polnischen Grenze, verbunden mit unendlichem Leid für Millionen geflüchteter, vertriebener und zwangsumgesiedelter Polen und Deutscher. Die Verschiebung des polnischen Staates um Hunderte von Kilometern von Ost nach West war eine direkte Folge von Hitlers Weltkrieg.
    Als Herbert Wehner, Wolfgang Mischnick und ich als Bundeskanzler uns 1977 in Auschwitz zur deutschen Schuld bekannten, war ich zutiefst erschüttert und den Tränen nahe. Am Abend des gleichen Tages sagte Herbert Wehner zu mir: »Man muß die Polen schon allein deshalb lieben, weil sie mehr gelitten haben als alle anderen.« Ich habe dieses Wort nicht vergessen. Wenn man die polnische Geschichte bis in das Jahr 1772, das Jahr der ersten Teilung, zurückverfolgt, gewinnt es zusätzlich an Gewicht.
    Leider wissen die meisten Deutschen nur wenig von der polnischen Geschichte und wenig von der polnischen Kultur. Zwar kennen wir Frédéric Chopin, aber einige halten ihn für einen Franzosen; zwar haben wir möglicherweise von Adam Mickiewicz und von seinem »Pan Tadeusz« gehört oder von Henryk Sienkiewiczs »Quo vadis« –aber darüber hinaus? Karl Dedecius und das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt haben das große Verdienst, fünfzig polnische Autoren ins Deutsche übersetzt und publiziert zu haben. Insgesamt sind aber die deutschen Kenntnisse über Polen wahrscheinlich geringer als die polnischen Kenntnisse über Deutschland.
    Nur die wenigsten Deutschen wissen, daß ein polnischer König schon im Jahre 966 den christlichen polnischen Staat begründet hat und daß der Name Polonia älter ist als der Name Deutschland. Wenn ein Deutscher den Namen Tannenberg hört, denkt er an eine Schlacht zwischen Deutschen und Russen im Ersten Weltkrieg und weiß nicht, daß es 500 Jahre vorher schon einmal eine Schlacht bei Tannenberg gegeben hat (die Polen nennen sie nach dem Dorf Grunwalden). Damals schlug ein polnischer König den deutschen Ritterorden – Danzig und die anderen Hansestädte standen auf polnischer Seite. Auch von den späteren Jahrhunderten der polnischen Geschichte wissen wir wenig. Der eine oder andere kennt vielleicht das »liberum veto«, das in der Zeit der Adelsherrschaft in Polen jedem Adligen im Sejm das Recht gab, einen Beschluß zu verhindern. Zur gleichen Zeit begann in Polen jedoch auch eine Epoche der Aufklärung und der Bildungsreform.
    Die gegenseitige Abneigung von Deutschen und Polen, die viele historische Wurzeln hat, wurde seit der Neugründung des polnischen Staates 1919 beiderseits politisch gepflegt. So hat zum Beispiel der Weimarer Außenminister Gustav Stresemann den Versuch einer deutsch-polnischen Vereinbarung nach dem Vorbild der deutsch-französischen Verständigung von 1925 in Locarno abgelehnt. Nach Hitlers Krieg, in dem Polen noch einmal von der Landkarte verschwand, blieben vielerlei Ressentiments. Kurt Schumacher sprach 1950 von einer offensiven Verteidigung Deutschlands an Weichsel und Narew; und vierzig Jahre später hat die CDU/CSU bis zur letzten Minute die deutsch-polnische Grenze nicht

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