Ausser Dienst - Eine Bilanz
als Sitz der Europäischen Kommission und ihrer Bürokratie.
Etwas besser ist es um die deutschen Kenntnisse von Holland bestellt. Den Juristen ist Hugo de Groot als einer der Begründer des modernen Völkerrechts ein Begriff; manch einer hat von dem großen Humanisten Erasmus von Rotterdam gehört; Rembrandt, Frans Hals und Vincent van Gogh sind uns vertraut. Viele Deutsche kennen das Schicksal der Anne Frank. Ansonsten wissen wir nicht besonders viel über das Land, weder über seine Kriege mit Spanien und England noch über seine Vergangenheit als Seemacht und als Kolonialmacht, deren Schwerpunkte im heutigen Indonesien und in Lateinamerika lagen. Die große Verwandtschaft zwischen dem Holländischen und dem Plattdeutschen ist nur in Norddeutschland bekannt. Dort weiß man auch, daß wir den Bau von Deichen und Schleusen von den Holländern gelernt haben, aber diese Kenntnisse sind nicht bis nach Stuttgart oder München gedrungen. Manchmal staune ich über die strenge Moralität unserer Nachbarn; selbst holländische Katholiken erscheinen mir manchmal als Calvinisten.
Hervorheben möchte ich die höfliche Diskretion holländischer Gesprächspartner gegenüber Deutschen. Dies um so mehr, als ich weiß, daß manchen Holländern, die untereinander von den Deutschen etwas abfällig als von den »Moffen« sprechen, Deutschland in der Tiefe ihrer Seele immer noch ziemlich unsympathisch ist. Deshalb ist gute Nachbarschaft zwischen den Holländern und den Deutschen gar nicht selbstverständlich. Dabei können wir viel von den Holländern lernen, die schon in den neunziger Jahren ihren Arbeitsmarkt und die Finanzierung ihres Wohlfahrtsstaates besser geordnet haben als wir.
Dies trifft in noch höherem Maße auf Dänemark zu, wo schon in den achtziger Jahren eine sehr erfolgreiche sozialökonomische Umgestaltung begonnen wurde. Auch im Unterbewußtsein der Dänen gibt es ein latentes Mißtrauen gegenüber den Deutschen. Sie verbergen es allerdings gut unter großer Bescheidenheit und sind uns gegenüber sehr höflich und von jovialer Gastfreundschaft. Auch hier sind es nicht Ereignisse aus grauer Vorzeit, nicht der jahrhundertelange Streit um Schleswig-Holstein oder der Kampf um die Düppeler Schanzen, sondern der deutsche Überfall 1940 und die nachfolgende Besatzungszeit, die den Dänen Vorsicht gegenüber Deutschen nahelegen. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn die Dänen sich lieber an ihre skandinavischen Nachbarn und an das entfernte England anlehnen als an das nahe, aber allzu große Deutschland.
Die norddeutschen Segler kennen zwar jeden kleinen Hafen an der dänischen Südsee und fast alle ihre Restaurants. Aber im übrigen Deutschland haben sich nur die «lille Havfrue« in Kopenhagen und der Märchendichter Hans Christian Andersen durchsetzen können. Gleichwohl hat die langjährige Partnerschaft in der Europäischen Union Dänen und Deutsche einander nähergebracht. Dies gilt auch für die anderen unserer direkten Nachbarn, die sich seit Jahrzehnten an der europäischen Integration beteiligen. Nicht nur der gemeinsame Markt, sondern auch seit 1985 das Schengener Übereinkommen, das einen freien Grenzübertritt ohne Paß- und Visumzwang zur Selbstverständlichkeit hat werden lassen, befördern das Zusammenwachsen der Völker. Dies gilt auch für die weiter entfernten Nachbarn wie Italien, Schweden, Finnland und sogar für die nicht zur EU gehörige Schweiz. Dagegen brauchen Polen und Tschechen, die erst nach einem halben Jahrhundert kommunistischer Diktatur der Europäischen Union beitreten konnten, verständlicherweise noch einige Zeit, um ihre Vorbehalte gegen die europäische Integration zu überwinden.
Ob die britische Nation ihre Vorbehalte überwinden will und kann, erscheint mir immer wieder als eine offene Frage. Weil ich in der anglophilen Atmosphäre Hamburgs aufgewachsen bin, habe ich mir lange Zeit eine funktionierende europäische Integration ohne entscheidende Mitwirkung der Briten und ihrer Staatskunst nicht vorstellen können. Deshalb habe ich mich 1957, als es um die Ratifikation der Römischen Verträge ging, im Bundestag der Stimme enthalten; ohne England wollte ich mir damals Europa nicht vorstellen. Auch in den sechziger Jahren bin ich nachdrücklich für den Beitritt des Vereinigten Königreiches zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft eingetreten. Erst im Laufe der siebziger Jahre habe ich begriffen, daß die Mehrheit der Engländer davon gar nicht begeistert war, sondern eine enge
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