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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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Anlehnung an Amerika als die natürliche Option ihres Landes betrachtete. Abgesehen von der Gemeinsamkeit der Sprache und der demokratischen Tradition, fällt bei dieser Präferenz vor allem ins Gewicht, daß England beide Weltkriege nicht ohne den amerikanischen Bündnisgenossen hätte siegreich überstehen können.
    England hat erst spät den Wunsch geäußert, der europäischen Gemeinschaft beizutreten. Es wäre jedoch falsch, daraus zu schließen, daß die Engländer und ihre politischen Führer sich in ähnlichem Maße für die europäische Integration einsetzen, wie wir Deutschen das im eigenen strategischen Interesse tun müssen. Vor allem der undurchsichtig taktierende Harold Wilson und später Margaret Thatcher (und in jüngster Vergangenheit abermals Tony Blair) haben mich gelehrt, daß für die politische Klasse Englands der Kanal zwischen Dover und Calais immer noch viel breiter ist als der Atlantik und daß die special relationship mit den USA auf absehbare Zukunft für England viel wichtiger bleibt als die europäische Integration. Ob der Premierminister von der Labour Party gestellt wird oder von den Konservativen: Allen genügt der Gemeinsame Markt, schon die gemeinsame Währung geht ihnen zu weit (Edward Heath oder Roy Jenkins bilden die Ausnahme, welche die Regel bestätigt).
    Gleichwohl habe ich den common sense , die Gelassenheit und Zähigkeit der englischen Politiker als vorbildlich angesehen. James (Jim) Callaghan, Roy Jenkins, Peter Carrington oder Denis Healey haben mir darüber hinaus oft geholfen, man konnte sich auf ihr Wort verlassen. Alastair Buchan, Gründungsdirektor des Londoner International Institute for Strategic Studies (IISS) hat mich die Anfangsgründe des nuklear-strategischen Kalküls zu verstehen gelehrt. Von dem zunächst in Neuseeland, später in London lehrenden Karl Popper habe ich das in der Politik zweckmäßige Prinzip der schrittweisen gesellschaftlichen Veränderung (piece-meal social engineering) übernommen. Von dem Ökonomen John Maynard Keynes habe ich in den ersten Nachkriegsjahren Entscheidendes gelernt. Keynes war schon tot, seine »General Theory of Employment, Interest and Money« (1936) war schwer verständlich; doch zwei seiner deutschen Adepten, die Professoren Erich Schneider und Karl Schiller, haben mich seinen makroökonomischen Ansatz der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung begreifen lassen. Ich bin deswegen allerdings – anders als manche englische, französische und deutsche Linke – kein naiver »Keynesianer« in dem Sinne geworden, daß ich in einer staatlichen Defizitwirtschaft ein Allheilmittel sehe. Im Gegenteil, in den frühen siebziger Jahren habe ich durch den unter meinem Vorsitz erarbeiteten »Orientierungsrahmen 85« versucht, der unter Kanzler Brandt schnell wachsenden Neigung zum deficit spending entgegenzuwirken.Viel später fand ich in dem eindrucksvollen englischen Banker Eric Roll einen Gesinnungsgenossen.
    Zu den bewundernswerten Beispielen, die uns die Engländer geben, zählt für mich das Mehrheitswahlrecht, auf dem das englische Zwei-Parteien-System beruht. Dazu gehört die Tradition, nach der ein Regierungschef erstens aus den Reihen des Parlaments kommen muß und zweitens im Laufe seines politischen Lebens eine Reihe von nationalen Regierungsämtern durchlaufen und so vielfältige Erfahrungen gesammelt haben muß, bevor er zum höchsten Staatsamt aufsteigt. So gibt es noch manches, was deutsche Politiker von ihren englischen Kollegen lernen können.
    Auf der anderen Seite ist uns noch gut der englische Widerstand gegen die deutsche Vereinigung in Erinnerung. Wir sollten dabei allerdings nicht vergessen: Es war keineswegs England allein, sondern eine ganze Reihe unserer Nachbarn und Partner, die sich 1989/90 der Vereinigung widersetzten; die britische Premierministerin hat es lediglich am deutlichsten zum Ausdruck gebracht. Der Widerstand reichte von Rom und Paris bis Kopenhagen, denn das Vertrauen unserer Nachbarn in die dauerhafte Friedfertigkeit der Deutschen war nicht besonders groß. Die entscheidende Hilfe erhielt Helmut Kohl schließlich aus Amerika. Die freundschaftliche Beziehung zu unseren Nachbarn und gegenseitiges Vertrauen ergeben sich nicht von selbst, sie bedürfen unserer stetigen Bemühung. Das gilt auch und besonders für England.
    Zum Schluß dieses Kapitels komme ich auf jene Nation zu sprechen, die zwar ebenfalls nicht zu unseren unmittelbaren Nachbarn zählt, die aber seit Jahrhunderten einen

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