Ausser Dienst - Eine Bilanz
zentralasiatischen Republiken errichtet, die bis 1990 Teil der Sowjetunion waren. Amerika hat nicht nur den mit der Sowjetunion geschlossenen ABM-Vertrag gekündigt, der dem atomaren Gleichgewicht diente, sondern plant sogar, eigene ABM-Systeme im Osten Mitteleuropas (in Polen und Tschechien) aufzustellen. Außerdem hat der Westen bis heute die Anpassung des KSE-Vertrages verweigert, der – wie 1990 im Zuge der Zweiplus-Vier-Verhandlungen den Sowjets zugesagt – für ein Gleichgewicht der in Europa stationierten konventionellen Streitkräfte auf niedrigem Niveau sorgen soll. Die amerikanischen Regierungen haben die Zusagen, die sie 1990 der Sowjetunion gemacht haben, gegenüber dem geschwächten Rußland nicht eingehalten.
Aber nicht nur Teile der politischen Klasse in den USA, sondern auch manche europäischen Politiker handeln gegenüber Rußland überheblich und herablassend. Einige setzen die Attitüden des Kalten Krieges fort, wenngleich Moskau ihnen dazu keinen Anlaß gibt. Sogar einige deutsche Politiker und ihr journalistischer Anhang scheinen geneigt, den Russen öffentlich unerbetene Ratschläge zu geben und auch die russische Innenpolitik öffentlich zu kritisieren. Ich bin darüber besorgt. Denn eine Politik der fortgesetzten Nadelstiche muß in Rußland nationalistische Reaktionen hervorrufen. Wir Deutschen haben ein strategisches Interesse an gutem Einvernehmen mit Rußland. Weil es Spannungen zwischen Polen und Rußland gibt und weil auch die gute Nachbarschaft mit Polen in unserem vitalen Interesse liegt, brauchen wir Sensiblilität und Fingerspitzengefühl zugleich gegenüber Moskau und Warschau – gegenüber der öffentlichen Meinung der polnischen Nation und gegenüber der öffentlichen Meinung der russischen Nation. Dies habe ich gelernt, seit ich 1966 meinen ersten Besuch in Warschau und in Moskau gemacht habe.
Zwar sind meine Kenntnisse von Rußland und seinen Menschen beschränkt, aber im Laufe von vier Jahrzehnten hat sich bei mir ein Eindruck verfestigt, der mich zunächst sehr erstaunte: Antideutsche Ressentiments sind unter Russen kaum jemals zu spüren. Der Grund mag darin liegen, daß die Russen den letzten Weltkrieg schließlich gewonnen haben; er mag darin liegen, daß man sich der enormen Verluste auf beiden Seiten bewußt ist – oder er liegt einfach im russischen Selbstbewußtsein. Jedenfalls habe ich bei Russen keinen Argwohn gegenüber Deutschland gespürt. Man kann dafür nur dankbar sein. Schon deshalb steht es uns nicht zu, antirussische Gefühle zu hegen. Wenn jemand uns dazu verleiten will, sollten wir ihm die kalte Schulter zeigen. Gutnachbarliche Beziehungen meinen nämlich auch die Beziehungen zu jenen Nachbarn, die etwas weiter entfernt leben.
Demokratie bleibt Menschenwerk
Deutschland hat das Prinzip der Demokratie erst spät adoptiert. Die Mehrheit der Deutschen wandte sich innerlich erst im Laufe der fünfziger Jahre der parlamentarischen Demokratie zu. Wenn wir in Westdeutschland nach der Währungsreform des Jahres 1948 nicht dank Ludwig Erhard und dank der amerikanischen Marshall-Hilfe eine erstaunlich günstige ökonomische Entwicklung erlebt hätten, wäre möglicherweise noch etwas mehr Zeit vergangen, bis das demokratische Prinzip sich in unserem Bewußtsein fest verankert hätte. Im deutschen Osten konnte sich die Demokratie erst nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft etablieren. Für das 21. Jahrhundert ist eine ernste Gefährdung der Demokratie im wiedervereinigten Deutschland nicht zu befürchten. Wohl aber könnten wir Mißverständnissen der parlamentarischen Demokratie ausgesetzt sein, die später zu Enttäuschungen führen. Ich gebe zwei Beispiele.
Einerseits halten viele Mitbürger eine klare Trennung zwischen Regierungsmehrheit und Oppositionsminderheit für eine demokratische Selbstverständlichkeit und den gelegentlichen Wechsel zwischen beiden für ein demokratisches Ideal. Deshalb kommt vielen eine »große« Koalition in Parlament und Regierung als eine Sünde wider die Demokratie vor. 1966 haben einige die damalige Große Koalition sogar als »Rückkehr zum Faschismus« mißverstehen wollen. Andererseits können viele nur schwer begreifen, daß das in fast ganz Europa verbreitete Verhältniswahlrecht zwangsläufig zu einer Vielzahl von politischen Parteien tendiert und daß diese Vielzahl von Parteien nahezu ausnahmslos zur Koalitionsbildung zwingt – oft genug auch zur Bildung »großer« Koalitionen.
Einerseits übernehmen wir in
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