Ausser Dienst - Eine Bilanz
ungeheuren Einfluß auf die deutschen Geschicke ausübt: Rußland. Ein Zar rettete 1762 Friedrich den Großen von Preußen. Ein anderer Zar hob 1815 nach dem endgültigen Sieg über Napoleon die reaktionäre »Heilige Allianz« von Rußland, Österreich und Preußen aus der Taufe. Von 1941 bis 1945 mußte sich Stalin des Hitlerschen Angriffskrieges erwehren; anschließend zog er den »Eisernen Vorhang« quer durch die Mitte Europas und mitten durch Deutschland. Die bolschewistische Sowjetunion war ähnlich expansiv und imperialistisch wie zuvor das Zarenreich; ihr letzter Vorstoß zielte im Dezember 1979 nach Afghanistan.
Danach hat es keinerlei Versuche zur Eroberung mehr gegeben. Der Zusammenbruch der Sowjetunion ein Jahrzehnt später war nicht eine Folge militärischer Gewalt von außen – Gott sei Dank!–, sondern vielmehr eine Folge der im Innern sich vollziehenden Implosion eines Systems, das seine Kräfte weit überdehnt hatte. Unter Michail Gorbatschow wurde das Land kooperationswillig und friedlich. Auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist Rußland unter Boris Jelzin und Wladimir Putin friedlich geblieben. Die russischen Regierungen haben sich statt dessen auf die politische und ökonomische Festigung und Modernisierung konzentriert. Das bleibt nach Jahrhunderten autokratischer und diktatorischer Herrschaft auch künftig eine ungeheure Aufgabe.
Immerhin ist es Putin gelungen, ein erhebliches Selbstvertrauen der russischen Nation wiederherzustellen. Ein erstaunlicher ökonomischer Aufschwung ist im Gang. Allerdings ist er zu einem wichtigen Teil dem Reichtum an Bodenschätzen und dem Export von Erdgas und Erdöl zu verdanken. Bei der industriellen Produktion und der Steigerung der Produktivität hinkt das Land noch hinterher. Die den Staat tragenden neuen Parteien, die neugeschaffenen Institutionen, Unternehmungen und Verbände haben noch keine Basis im öffentlichen Bewußtsein. Auch war die Führung bisher nicht stark genug, das unter Jelzin entstandene hohe Maß an Korruption und frühkapitalistischer Selbstbereicherung entscheidend zurückzudrängen. Die wichtigsten Stützen des Präsidenten und der Regierung sind der Machtapparat des Kreml und die ihm gehorchenden zivilen Bürokratien sowie die bewaffneten Kräfte.
Rußlands militärische Macht ist nach wie vor beträchtlich, sie steht hinter Amerika in der Welt an zweiter Stelle. Im Innern ist der neue russische Staat freilich noch kein starker Staat. Der Zusammenbruch der kommunistischen Ideologie hat ein Vakuum hinterlassen. Trotz starker Religiosität scheint ein Rückgriff auf das Christentum kaum möglich, während die Demokratie in den Augen vieler Russen diskreditiert ist, weil sie diesen Begriff – fälschlich – mit den von ihnen so genannten »Wild-West-Jahren« der Jelzin-Epoche identifizieren. Zugleich erscheint die Nachfolgefrage an der Spitze des Staates als nicht prinzipiell gelöst. Aus allen diesen Gründen ist nicht völlig auszuschließen, daß die teilweise chaotischen Zustände zurückkehren könnten, die man unter Jelzin erlebt hat. Dagegen spricht die große Autorität, die Wladimir Putin im ganzen Volk erworben hat. Fast alle auf ökonomisches Wachstum und Wohlstand gerichteten Erwartungen und Hoffnungen sind mit seinem Namen verknüpft. Wenn auch noch manche Überregulierungen aus sowjetischer Zeit bestehen, so ist doch zum ersten Mal seit Stalin die Entstehung eines vielfältigen wirtschaftlichen Mittelstandes in Gang gekommen. Eine autoritative Regierung bei gleichzeitig weitgehender wirtschaftlicher Freiheit gewinnt zunehmend an Wahrscheinlichkeit.
Leider werden in der westlichen Welt, vor allem in den Vereinigten Staaten, weder die ungeheuer schwierigen inneren Aufgaben verstanden, mit denen heute und morgen jede russische Regierung konfrontiert ist, noch findet dort die Tatsache Anerkennung, daß wir es in Moskau seit Gorbatschow mit friedlichen und gegenüber dem Westen kooperationswilligen Regierungen zu tun haben. Selbst innenpolitische Gegner von George W. Bush jun. erklären, Rußland sei »neben dem Mittleren und Nahen Osten die zweite große Herausforderung für die globale Sicherheit« (Zbigniew Brzezinski). Tatsächlich hat seit 1990 nicht Rußland seinen militärischen Machtbereich ausgedehnt, wohl aber hat der Westen die NATO bis an die russischen Grenzen vorgeschoben. Zusätzlich will man sogar die Ukraine und Georgien in die NATO eingliedern. Amerika hat militärische Stützpunkte in einigen
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