Ausser Dienst - Eine Bilanz
Sympathie unterstützten.
Beispiele für Massenhysterie in Deutschland gibt es viele. Man muß dabei nicht bis in die späten Jahre der Weimarer Demokratie zurückgehen, als bis dahin demokratisch gesinnte Wähler aus Angst vor Arbeitslosigkeit und sozialem Elend sich massenhaft den beiden extremen Parteien der Nazis und der Kommunisten zuwandten und der parlamentarischen Demokratie den Boden entzogen. An ein kleines Beispiel erinnere ich mich mit Scham, denn es ist meine Partei gewesen, die sich im Sommer 1965 von einer Kampagne der Bild-Zeitung zur Ablehnung der geplanten Erhöhung der staatlichen Telefongebühren anstecken ließ und unter völliger Mißachtung der Verhältnismäßigkeit den Bundestag aus dem Parlamentsurlaub zurückholte.
Jede Demokratie unterliegt Stimmungen und Stimmungswechseln. Dabei spielen die Massenmedien eine zunehmend brisante Rolle. Im alten Athen oder in Rom waren Politiker vor allem auf die Wirksamkeit ihrer Reden angewiesen. Zu Zeiten von Jefferson oder Disraeli oder Bismarck wurden politische Auseinandersetzungen in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern ausgetragen. Heutzutage hat das Fernsehen längst das Radio abgelöst, und für viele jüngere Menschen ist inzwischen das Internet zur wichtigsten Informationsquelle geworden. Diese elektronischen Medien sind heute die wichtigsten Verbreiter und Verstärker von Stimmungen. Sie sind häufig genug auch deren Urheber.
Wenn Medienkonzerne Massenstimmungen erzeugen, tun sie dies überwiegend aus zwei Motiven. Zum einen verfolgen sie damit politische Zwecke, indem sie die politische Gesinnung ihres Eigentümers verbreiten – Rupert Murdoch, Silvio Berlusconi oder früher Axel Springer sind nur einige Beispiele. Zum anderen sind die Massenmedien in erheblichem Maße auf die Einnahmen aus bezahlten Anzeigen oder bezahlter Werbung angewiesen. Weil diese Einnahmen von der Auflage oder der Einschaltquote abhängen, sind hohe Auflagen, Einschaltquoten und Reichweiten für den wirtschaftlichen Erfolg eines Massenmediums entscheidend. Je mehr Sensationen und Emotionen ein Chefredakteur oder ein Intendant ausstrahlen läßt, desto besser für die Reichweite. Ähnlich wie der Fußball zu einer Unterhaltungsindustrie geworden ist, die zu immer höheren Transfersummen für die Fußballstars führt, müssen auch die Massenmedien den Unterhaltungswert ständig steigern, um ihre Gewinne zu sichern. Daraus ergibt sich zwangsläufig die Tendenz zur Sensation, ebenso zur Verflachung und zur Oberflächlichkeit. Selbst die wenigen Qualitätszeitungen und anspruchsvollen Fernsehkanäle sind davon nicht ganz frei; auch sie müssen dem wachsenden Unterhaltungsbedürfnis entsprechen (auch meine Kurzinterviews »Auf eine Zigarette …« im Magazin der ZEIT dienen diesem Zweck).
Weil die Privatisierung des Fernsehens nicht rückgängig gemacht werden kann, müssen Politik und Gesetzgeber zumindest die Ballung von Medienmacht in den Händen weniger einzelner verhindern. Wenn das nicht gelingen sollte, könnte politische Stimmungsmache das politische Sachargument bald weit zurückdrängen. Selbst unabhängige Qualitätszeitungen wie die »Süddeutsche Zeitung«, die »Frankfurter Allgemeine«, der »Tagesspiegel« oder die ZEIT könnten mittels lukrativer Übernahmeangebote von politisch-tendenziösen Medienkonzernen aufgesaugt werden.
Wir Deutschen sind besonders anfällig für Ängste aller Art – vom »Waldsterben« bis zum »Ende des Wachstums«, vom »Atomkrieg« bis zur »Klimakatastrophe«. Diese Anfälligkeit ist das Ergebnis schrecklicher Erlebnisse im vorigen Jahrhundert und der besonderen Schwere unserer daraus abgeleiteten Verantwortung. Um so mehr haben wir vernunftgemäße Abwägung nötig; deshalb brauchen wir einen unabhängigen, kritischen Journalismus.
Kritische Journalisten sind Irrtümern und Fehlurteilen allerdings ebenso ausgeliefert wie Politiker. Auch sie sind Einflüsterungen aus den Funktionseliten ausgesetzt: aus Arbeitgeberverbänden oder Gewerkschaften, aus der Rektorenkonferenz, aus dem Verband der Fluglotsen oder der Lokomotivführer, der privaten Banken oder der öffentlich-rechtlichen Sparkassen. Ebenso versuchen die großen Konzerne und die Markenartikel-Hersteller Einfluß auf Journalisten zu nehmen. Ein erheblicher Teil der Gelder und Aktivitäten, die von Firmen und Verbänden für sogenannte Öffentlichkeits- und Pressearbeit aufgewandt werden, zielt auf Beeinflussung von Journalisten und Medien. Vor allem Verbände
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