Ausser Dienst - Eine Bilanz
Bundestagswahl eine sehr allgemeine Richtungs- und Tendenzentscheidung für mehrere Jahre bedeutet, will der Volksentscheid eine konkrete Festlegung in einer einzigen Frage. Allein in der relativ kleinen Schweiz gibt es eine über Jahrhunderte entfaltete, gut funktionierende Praxis der Abstimmung durch das Volk. Wir in Deutschland sollten bei unserer inzwischen recht gut eingeübten repräsentativen, das heißt parlamentarischen Demokratie bleiben.
Weil wir Deutschen in der Demokratie nicht sonderlich erfahren sind, neigen einige unter uns dazu, ihre Schwächen als Kennzeichen prinzipieller Unzulänglichkeit anzusehen. Viele Deutsche müssen erst noch lernen, daß die Demokratie überall auf der Welt mit Versuchungen, Defiziten und Irrtümern behaftet ist, daß sie aber tatsächlich die bei weitem beste Regierungsform darstellt, die wir kennen. Entscheidend ist am Ende – nach einem Wort von Karl Popper–, daß die Regierten ohne Gewalt und Blutvergießen, allein mit ihrer Stimme in einer Wahl die Regierung auswechseln können und daß die regierenden Politiker und die sie tragenden Parlamentsabgeordneten, um wiedergewählt zu werden, sich vor den Regierten verantworten müssen.
Die Mißverständnisse, denen der demokratische Prozeß in Deutschland vielfach unterliegt, entspringen oft irrealen Idealvorstellungen. Die gesellschaftliche Entwicklung ist weder, wie Marx wollte, ausschließlich durch den Gegensatz von Kapital und Arbeit beherrscht, noch darf sie, wie die Liberalen fordern, »dem Markt« überlassen bleiben und schon gar nicht den Verbänden. Viele Probleme und Konflikte bedürfen des Eingreifens des Staates – und damit der Politik. Die gesetzgeberischen Eingriffe der Politiker und die von ihnen geschaffenen Aufsichtsinstanzen können aber auch zu weit gehen. Die staatliche Exekutive, die durch Beamte und Bürokratien ausgeübt wird, neigt in einem Maße zur Paragraphen-Gläubigkeit, wie sie außer bei uns nur noch in Frankreich verbreitet ist. Einerseits will mir der heutige Wohlfahrtsstaat als die größte kulturelle Leistung des 20. Jahrhunderts erscheinen. Andererseits zeigt der bloße Umfang des deutschen Sozialgesetzbuches – über 1300 Seiten mit Paragraphen bedruckt!–, daß wir einer Regulierungssucht anheimgefallen sind. Das Einkommensteuerrecht allein umfaßt abermals über 450 Seiten (ohne die Kommentare!), nur mit Paragraphen bedruckt. Von 1990 bis 2006 hat der Bundestag 2360 neue Gesetze beschlossen; dabei sind Gesetzesänderungen nicht mitgezählt. Kein noch so tüchtiger Jurist kann diese Gesetzesflut überblicken. Es ist ein weitverbreiteter Irrtum zu glauben, aus zusätzlichen Gesetzesparagraphen resultiere ein immer höheres Maß an Gerechtigkeit. Im Gegenteil, die Gesetzesflut führt nicht nur zu bürokratischer Erstarrung, sie verleitet außerdem zu Umgehungen und Manipulationen der neuen Bestimmungen, zu Korruption und Schwarzarbeit. Allzu scharf macht schartig, sagt ein norddeutsches Sprichwort. Deshalb sollte es nicht der Ehrgeiz eines Politikers sein, in einem bestimmten Gesetz einen bestimmten Paragraphen durchgesetzt zu haben; sondern im Gegenteil verdient derjenige öffentliche Anerkennung, der die Abschaffung eines zu weit gehenden Gesetzes oder wenigstens eine erhebliche Vereinfachung zustande bringt.
Demokratie und Rechtsstaat sind immer wieder Gefährdungen ausgesetzt. Einerseits können akute massenpsychologische Ängste und Stimmungen schnell zu Überreaktionen führen; andererseits droht die Einschränkung des liberalen Rechtsstaates durch eine überbordende staatliche Bürokratie. Manchmal zieht das eine das andere nach sich. Dies haben wir miterlebt, als das terroristische Kolossalverbrechen gegen zwei Hochhaustürme in Manhattan im Spätsommer 2001 die amerikanische Nation zunächst in Angst und Schrecken versetzte, diese Gefühle alsbald unter Führung des Präsidenten in eine furiose Kriegsstimmung umschlugen und schließlich die Spitzen der staatlichen Bürokratie eine Reihe von bis dahin festen liberalen Rechtsprinzipien beiseite schoben. Wir haben 1968 in Frankreich erlebt, wie der um seine Nation hochverdiente Präsident de Gaulle angesichts einer von protestierenden Studenten und Gewerkschaften gemeinsam aufgepeitschten Massenstimmung von der Gewalt der Straße beinahe zum Amtsverzicht gezwungen wurde. Wenig später haben wir ähnliches auch bei uns erlebt, als einige Teile der akademischen Jugend die terroristischen Verbrechen der RAF mit unverhohlener
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