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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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unseren Wahlkämpfen weitgehend das anglo-amerikanische Beispiel des Zweikampfes zwischen zwei Führungspersonen – von der Konfrontation zwischen Adenauer und Schumacher, später zwischen Strauß und mir bis hin zum Zweikampf zwischen Kanzler Schröder und KanzlerKandidatin Merkel. Andererseits übersehen wir gern, daß es in den USA und England das dort herkömmliche Mehrheitswahlrecht ist, das de facto die Bildung eines Zwei-Parteien-Systems und damit einen beständig wiederholten Zweikampf ausgelöst hat, während das deutsche Verhältniswahlrecht einschließlich seiner Fünf-Prozent-Klausel uns im Bundestag heute fünf parteiliche Fraktionen beschert (theoretisch könnten es bis zu neunzehn kleine Fraktionen sein) und uns auch künftig zur Koalitionsbildung zwingen wird.
    Das in einem einfachen Bundesgesetz, nicht im Grundgesetz festgelegte Verhältniswahlrecht hat die tatsächliche Gestalt der Demokratie in Deutschland stärker beeinflußt als manches Detail der Verfassung. Der in den sechziger Jahren von der Großen Koalition unternommene, leider vergebliche Versuch, das Verhältniswahlrecht durch ein Mehrheitswahlrecht zu ersetzen, war vom Grundgesetz erlaubt. Und er war durchaus vernünftig, ich habe mich dafür eingesetzt. Heute möchte ich davon abraten, einen solchen Versuch zu wiederholen. Denn der Versuch würde abermals und aus den gleichen Gründen scheitern wie damals. Viele Bürger und viele Bundestagsabgeordnete halten ein Mehrheitswahlrecht für ungerecht, weil die für den unterlegenen Kandidaten abgegebenen Stimmen eines Wahlkreises ohne Berücksichtigung bleiben und unter den Tisch fallen; vor allem aber würde jene Hälfte der Abgeordneten sich widersetzen, deren Wiederwahl und politische Existenz allein davon abhängt, daß sie auf der jeweiligen Landesliste ausreichend hoch plaziert sind.
    Ich möchte ganz allgemein davon abraten, immer wieder der Versuchung zur grundgesetzlichen Perfektion nachzugeben. Die USA haben ihre Verfassung in den über zwei Jahrhunderten seit 1787 genauso oft ergänzt wie Deutschland in dem halben Jahrhundert seit 1949. Wir sind bisher allzu schnell zu Verfassungsänderungen bereit gewesen; wir müssen noch lernen, daß unsere offene Gesellschaft in ihrer Entfaltung nicht durch immer neue staatliche Regeln und Regulierungen und Institutionen behindert und eingeengt werden darf. Auch das Bundesverfassungsgericht sollte lernen, daß seine hochdetaillierten Urteilsbegründungen, die ihm zur Gewohnheit geworden sind, zu unerwünschten Einengungen führen. Das Schlagwort von der »formierten Gesellschaft« (Ludwig Erhard) war der Irrtum bloß eines einzelnen. Dagegen ist die Regulierungsmanie, die – von der Bürokratie ausgehend – den ganzen Bundestag und eine Bundesregierung nach der anderen erfaßt hat, eine zur Erstarrung führende psychische Epidemie; sie hat inzwischen die gesamte politische Klasse ergriffen – bis hin zur gesetzlichen Pfandpflicht für Blechdosen und zum gesetzlichen Verbot, in einer Kneipe zu rauchen.
    Abraten möchte ich auch von der Idee, das Instrument von Volksabstimmungen auszuweiten (einschließlich der gelegentlich auftauchenden Idee, das Gewicht des Bundespräsidenten durch direkte Wahl zu verstärken). Je komplizierter und schwieriger eine zur Entscheidung anstehende Frage ist, um so eher kann ein Volksentscheid stimmungsabhängig zum Fehlentscheid werden. Im Jahr 2005 haben zwei Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden den europäischen Integrationsprozeß zum Stillstand gebracht. Der zur Abstimmung stehende hochstilisierte und komplizierte Text eines europäischen Verfassungsentwurfes sei für die beteiligten Bürger absolut unverständlich, argumentierten die Gegner und schürten eine ohnehin weitverbreitete, allgemein gegen Bürokratie und Obrigkeit gerichtete Stimmung. EineVolksabstimmung über den gleichen Gegenstand in Deutschland wäre damals ähnlich negativ ausgegangen (eine englische Volksabstimmung erst recht). Tatsächlich wollten und wollen aber die europäischen Nationen keineswegs die europäische Integration abwürgen.
    Ein Politiker, der sich für einen Volksentscheid einsetzt, beruft sich gern darauf, daß es eine höhere demokratische Autorität oder Legitimität gebe als die parlamentarische Entscheidung; oft verfolgt er damit aber nur innen- oder parteipolitische taktische Interessen. Zwar ist auch jede allgemeine Wahl zum Parlament durchaus stimmungsabhängig.Aber während eine Wahl wie etwa die

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