Ausser Dienst - Eine Bilanz
Spiegel-Affäre des Jahres 1962 (sie hätte richtiger Strauß-Affäre genannt werden sollen) war dafür ein fulminantes Beispiel. Weil der »Spiegel« aufgrund von weitläufigen Recherchen einige Schwächen der Bundeswehr aufgedeckt hatte, glaubten ein selbstherrlicher Bundesminister, einige militärische Bürokraten und die Bundesanwaltschaft das Vaterland in Gefahr – sogar der Bundeskanzler redete von einem »Abgrund von Landesverrat« –und ließen eigenmächtig den Herausgeber Augstein und einige seiner Redakteure festnehmen. Und daß ich den Artikel von Conny Ahlers gegengelesen hatte, sollte mir als Beihilfe zum Landesverrat ausgelegt werden. Später ist die künstlich aufgebauschte Anklage in sich zusammengebrochen.
Die Spiegel-Affäre war ein gutes Beispiel dafür, daß die öffentliche Meinung eines unabhängigen Journalismus bedarf. Denn jede Demokratie ist und bleibt anfällig. Deshalb sollte die Demokratie in unseren Schulen und in den Massenmedien nicht als fleckenloses Idealgebilde vorgestellt werden, sondern lediglich als die beste aller Regierungsformen. Jede Demokratie bleibt fehlbar. Wer sie übermäßig idealisiert, läuft Gefahr, daß er andere, die zunächst allzu gläubig sind, einer späteren bösen Enttäuschung aussetzt – und daß die Enttäuschten sich zu Anti-Demokraten wandeln.
Die deutsche Kleinstaaterei
Manche Probleme, die uns im politischen Alltag beschäftigen, reichen weit in die Geschichte zurück. Aus der Geschichte lernen heißt, die historischen Zusammenhänge zu verstehen, die eine bestimmte Entwicklung begünstigt haben. Von allen historischen Relikten, mit denen wir Deutschen uns heute schwertun, bereitet uns kaum eines so viele innenpolitische Probleme wie die deutsche Kleinstaaterei.
Gegen Ende des Mittelalters – die Macht des Reiches befand sich schon im Verfall – bestand Deutschland aus ungezählten kleinen und kleinsten Staaten. Alle diese Fürstentümer, Herzogtümer und freien Reichsstädte waren nahezu souverän, jeder verfolgte seine eigene Politik. Die protestantische Reformation und besonders der Augsburger Religionsfriede des Jahres 1555 sorgten für zusätzliche Spaltungen. Der Grundsatz cuius regio, eius religio räumte dem jeweiligen Fürsten das Recht ein, die Religion seiner Untertanen zu bestimmen (und in einigen Fällen die Unwilligen aus dem Lande zu jagen). In Deutschland war es weniger die ekelhafte katholische Inquisition als vielmehr dieser fälschlich sogenannte Religionsfriede, der religiöse Intoleranz zum gültigen Prinzip erhob. Religiöse Gegensätze und Kleinstaaterei haben nicht nur die auswärtigen Mächte zu gewaltsamer Intervention eingeladen, am schlimmsten im Dreißigjährigen Krieg, sie haben auch, anders als in den meisten der uns benachbarten Völker, die Entwicklung eines eigenen Bewußtseins von der deutschen Nation entscheidend verzögert.
Die Kleinstaaterei hat zugleich den politischen Durchbruch der Aufklärung in Deutschland massiv behindert und verzögert. Während in England, in Frankreich, in Holland und in den nordischen Länder sich das demokratische Prinzip schrittweise durchsetzen konnte, verharrten die vielen deutschen Staaten im Absolutismus. Der lutherische Obrigkeitsgehorsam wie auch die katholische Kirche haben dazu beigetragen. Noch um das Jahr 1800 zählte man in Deutschland rund dreihundert staatliche Gebilde. Napoleon hat dann einige Schneisen in den deutschen Flickenteppich geschlagen. Er hat zum Beispiel das Königreich Westfalen geschaffen (das später größtenteils von Preußen einverleibt wurde), das Königreich Württemberg und – fast schon in seiner heutigen Gestalt – das Königreich Bayern. Aber der Reichsdeputationshauptschluß des Jahres 1803 ließ immerhin noch dreißig deutsche Staaten am Leben.
1848/49 kam es in der Frankfurter Paulskirche zu einem ersten ernstzunehmenden Versuch deutscher Bürger, einen deutschen Nationalstaat und zugleich einen demokratisch gewählten Reichstag zu etablieren (der Impuls zur Paulskirchen-Versammlung war übrigens aus Frankreich gekommen, und ein Teil der in Frankfurt vorgetragenen Ideen stammte aus den USA). Die Bemühungen der Paulskirche blieben ergebnislos. Unterdessen annektierte das Königreich Preußen im Laufe der Jahrzehnte eine größere Zahl bisher souveräner Fürstentümer, und 1871, nach dem Sieg über Frankreich, brachte Bismarck als preußischer Ministerpräsident schließlich die Dynastie der Hohenzollern an die Spitze des von ihm
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