Ausser Dienst - Eine Bilanz
gegründeten Reiches. Es 1wurde zwar ein demokratisch gewählter Reichstag installiert, aber der hatte wenig Rechte – das Bewilligungsrecht für den Haushalt war die große Ausnahme. Deshalb entwickelte sich die Haushaltsdebatte zu dem Ort, an dem die Opposition ihre Beschwerden ausbreiten konnte – und das ist bis in unsere Tage so geblieben. Bismarcks Verdienst ist unbestreitbar; dennoch wird niemand ihn für einen Demokraten halten. Die vielen kleinen Staaten, die er 1871 im Reich zusammenfügte, mußte er notgedrungen am Leben lassen.
Die preußische Vormachtstellung hat den Zusammenbruch des Kaiserreiches 1918 überdauert. Noch am Ende der Weimarer Republik war die Stadt Erfurt nicht etwa Hauptstadt eines thüringischen Staates, sondern Hauptstadt des gleichnamigen Regierungsbezirks in der preußischen Provinz Sachsen. Die hamburgischen Stadtteile Altona, Wandsbek und Harburg-Wilhelmsburg gehörten sogar zu zwei verschiedenen preußischen Provinzen. Zwar eröffnete der Staatszusammenbruch des Reiches 1918/19 den Weg zur parlamentarisch-demokratischen Regierung, aber die Vielzahl der Länder, die sich immer noch Staaten nannten, hat er nicht beseitigt. Während der zwölf Jahre der Nazi-Herrschaft wurde die föderative Vielfalt zentralstaatlich überdeckt. Nach dem katastrophalen Ende des Nazi-Reiches war es mit der Zentralgewalt vorbei, ein Erlaß der Besatzungsmächte verfügte die Aufhebung Preußens.
Heute besteht Deutschland aus sechzehn Ländern. Sie haben höchst unterschiedliche ökonomische Lebenskraft, gleichwohl haben sie alle die gleichen Kompetenzen. So wirkt die Geschichte der Kleinstaaterei sich bis in unsere Gegenwart aus. Fast in jedem Jahrzehnt muß erneut um die zweckmäßige Balance zwischen den Zuständigkeiten der Länder und des Bundes gerungen werden. Ökonomische Zwänge unserer über alle Ländergrenzen hinweg einheitlichen Volkswirtschaft und zunehmend auch ökonomisch-politische Zwänge des gemeinsamen europäischen Marktes führen zu wachsender Ballung von Kompetenzen im Zentrum, früher in Bonn, heute in Berlin und zunehmend in Brüssel. Die Landesregierungen der sechzehn Bundesländer verteidigen jedoch zäh ihre Selbständigkeit. Weil sie damit nur sehr begrenzt Erfolg haben, versuchen die Ministerpräsidenten der Länder – in stetig wachsendem Maße – über den Bundesrat Politik und Gesetzgebung der Bundesregierung und des Bundestages zu beeinflussen. Dazu kommt der jeder Bürokratie innewohnende Drang nach Ausweitung der eigenen Zuständigkeit, dem sowohl die Bürokratien der Bundesländer unterliegen als auch die Bürokratien des Bundes.
Im Ergebnis haben wir es mit einer zunehmend undurchsichtigen Mischung von Verantwortlichkeiten zu tun. Zwei herausragende Akte, welche bewußt und willentlich zusätzliche Mischverantwortung geschaffen haben, waren die Grundgesetzänderungen von 1969 mit der Schaffung von drei euphemistisch sogenannten »Gemeinschaftsaufgaben« und die Grundgesetzänderung des Jahres 1992, die den Landesregierungen spezifische Mitwirkungsrechte in der europäischen Integrationspolitik eingeräumt hat. Auch jede Form der Mischfinanzierung verwischt die Verantwortlichkeit. Selbst der politisch interessierte Bürger kann in vielen Fällen nicht erkennen, wen er angesichts eines Problems oder eines Mißstandes für verantwortlich halten soll; deshalb kommen viele dazu, resigniert »die da oben« für die Schuldigen zu halten.
Ich habe immer die Auffassung vertreten, daß bei der Verteilung der Kompetenzen das »Vorrecht der kleineren Gemeinschaft« gelten sollte. Das Wort stammt von dem Jesuitenpater Oswald von Nell-Breuning, der am Beispiel der Gesellschaftsund Wirtschaftpolitik das Prinzip der Subsidiarität entwickelte. Subsidiär heißt auf Deutsch hilfsweise. Nur dort, wo die am Ort lebenden Menschen überfordert sind und die vorhandenen Mittel nicht ausreichen, nur dort soll die übergeordnete Instanz hilfsweise eingreifen. Alles, was von den Menschen am Ort entschieden oder von ihnen umgesetzt werden kann, muß – um der Würde des Menschen willen – tatsächlich auch von ihnen entschieden oder gemacht werden. Was ein Dorf oder eine Stadt selbst entscheiden kann, muß der Gemeinderat auch selbst entscheiden dürfen! Was ein Landtag selbst und ohne Eingreifen des Bundes regeln kann, das muß er auch regeln dürfen! Unsere geschichtlich gewachsene bundesstaatliche Struktur bliebe nicht dauerhaft lebensfähig, wenn uns das Subsidiaritätsprinzip,
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