Ausser Dienst - Eine Bilanz
Terroristen ins Ausland ausreisen zu lassen. Wir sind damit dem Präjudiz gefolgt. Aber es war, wie ich am nächsten Morgen erkannte, ein schwerwiegender Fehler. Ich beschloß, mich niemals wieder auf so einen Handel einzulassen. Denn die Terroristen würden auf den Erfolg künftiger Geiselnahmen rechnen und deshalb ihre verbrecherische Taktik der Geiselnahme fortsetzen, die Freigelassenen aber würden sich zu neuen Verbrechen ermutigt fühlen. Dieser Einsicht entsprechend habe ich einige Wochen später im Fall der Geiselnahme des Personals unserer Stockholmer Botschaft sogleich und ohne zu zögern entschieden, die Forderungen der Geiselnehmer nicht zu erfüllen. Die Führer der Parteien des Bundestages stimmten zu.
Sie stimmten meiner Linie abermals zu, als im Herbst 1977 Hanns Martin Schleyer entführt wurde, den ich gut kannte und den ich geschätzt habe. Wir haben mit großem Aufwand wochenlang – bis zur Auffindung seiner Leiche – nach dem Versteck gesucht, in dem die Verbrecher den Arbeitgeberpräsidenten gefangenhielten. Mit immer neuen Tricks haben wir die Terroristen hingehalten, um Zeit zu gewinnen. Wie man heute weiß, sind wir einmal ganz nahe dran gewesen, den Ort zu finden, an dem die Verbrecher ihn versteckt hatten; aber ein böser Zufall hat den Erfolg verhindert. Für Schleyers Familie war es selbstverständlich, sein Grundrecht auf Leben höher zu stellen als alle anderen Werte; die Familie rief das Verfassungsgericht an. Aber das Gericht konnte nicht sagen, das Grundgesetz zwinge die Bundesregierung zu der von der Familie gewollten Entscheidung zugunsten des Ehemanns und Vaters – und damit zum Nachgeben gegenüber den Terroristen. So wenig das Grundgesetz eine Entscheidungshilfe bot, so wenig hätte man in der Bibel oder bei einem Philosophen Rat gefunden. Wir waren allein auf die Kräfte unserer Vernunft und unserer Moral angewiesen.
Auch als schließlich eine Gruppe islamistischer Terroristen der deutschen RAF zu Hilfe kam, ein Lufthansa-Flugzeug nach Mogadischu in Somalia entführte und die neunzig Menschen an Bord, Passagiere und Besatzung, zu ermorden drohte, bin ich bei meiner Entscheidung geblieben, nicht auszutauschen. Aber ich war mir darüber im klaren, unausweichlich und schuldhaft in die Tragödie verstrickt zu sein. Und ich war entschlossen, die Verantwortung auf mich zu nehmen. Falls unser riskanter Versuch mißlungen wäre, mit Hilfe einer polizeilichen Spezialeinheit des damaligen Grenzschutzes (heute bekannt unter dem Kürzel GSG9) die Menschen in Mogadischu zu befreien, und wir im Ergebnis viele Tote zu beklagen gehabt hätten, wäre ich anderntags zurückgetreten.
Wir haben damals mit Glück Erfolg gehabt. Aber den Mord an der Geisel Hanns Martin Schleyer haben wir danach nicht verhindern können. Wenn ich heute, dreißig Jahre später, an den Herbst 1977 zurückdenke, so glaube ich nicht, daß wir damals falsch gehandelt haben. Ich weiß gleichwohl, daß wir Mitschuld tragen am Tod zweier deutscher Diplomaten in Stockholm und am Tod Hanns Martin Schleyers.
Daß ein Politiker sich zu einem spontanen Entschluß genötigt sieht, kommt nicht gerade selten vor. Solche Notwendigkeit kann sich zum Beispiel in einer Parlamentsdebatte als Folge eines wirksamen Angriffs einer Gegenpartei ergeben. Für einen Regierenden kann sie infolge einer plötzlichen Naturkatastrophe, aber auch zum Beispiel wegen einer unerwarteten Zuspitzung bei einer internationalen Konferenz entstehen, an der er beteiligt ist. Immerhin sind aber unvorhergesehene Notlagen, in denen es um Leben oder Tod geht und ein Regierender sich augenblicklich entscheiden muß, relativ ungewöhnlich. In solchem Fall mag es vorkommen, daß er sich quasi nach seinem inneren moralischpolitischen Instinkt oder nach seinem »Augenmaß« richtet. Jedoch entlastet keine noch so überraschende Notlage den handelnden oder nicht handelnden Politiker von seiner Verantwortung – mag sich sein Entschluß später als richtig oder als Fehlschlag erweisen.
IV
DIE WELT VOR NEUEN
HERAUSFORDERUNGEN
Kardinalprobleme
Seit der Öffnung Chinas durch Deng Xiaoping nach 1979, seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Öffnung Rußlands und der übrigen Nachfolgestaaten nach 1989, seit der Öffnung Polens und aller anderen ehemaligen Satelliten Moskaus, seit dem terroristischen Angriff der al-Qaida auf New York im Jahr 2001 und seit den amerikanischen Alleingängen unter Präsident Bush jun. haben die weltpolitische und die
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