Ausser Dienst - Eine Bilanz
Bundeskanzler Kohl an meiner Entscheidung festhielt – trotz des späteren Meinungswechsels der SPD und trotz großer Demonstrationen–, wurde der Doppelbeschluß dann tatsächlich in die Tat umgesetzt. Die Verwirklichung der zweiten Hälfte, die Stationierung von Pershing-II-Raketen, löste schließlich genau das erstrebte Ergebnis aus, und 1987 wurde der seit 1945 erste Abrüstungsvertrag (über Inter-Mediate Forces, IMF) zwischen West und Ost geschlossen. Auf beiden Seiten in Europa wurden die atomaren Mittelstreckenwaffen beseitigt. Ich war damals schon seit fünf Jahren aus dem Amt, jedoch empfand ich tiefe Genugtuung über diesen Erfolg. Unsere lange abgewogene strategisch-diplomatische Vernunft hatte sich in Ost und West durchgesetzt, die Weltpolitik nahm eine bessere Richtung.
So weit, so gut. Gar nicht gut sind jedoch die irrationale Angst und das seelische Zerwürfnis gewesen, die der NATO-Doppelbeschluß in den frühen achtziger Jahren in Teilen unseres Volkes ausgelöst hat. Sowohl gegen mich, aber später ebenso gegen Bundeskanzler Kohl gerichtet, versammelte zweimal eine sich selbst als Friedensbewegung verstehende Opposition mehr als hunderttausend demonstrierender Menschen in Bonn. Politiker, Pfarrer, Schriftsteller und andere Intellektuelle stellten uns als Kriegstreiber oder als Hasardeure dar. Sie machten sich zu Propagandisten der Angst vor dem atomaren Krieg, dem wir angeblich Vorschub leisteten. Die eigene Angst öffentlich zu bekennen wurde für manch einen zur modischen Attitüde. Viele beriefen sich auf die Bergpredigt, einige blauäugige Idealisten erklärten ihren Stadtteil zur »atomwaffenfreien Zone«. Propagandistische und finanzielle Hilfe staatlicher Organe der kommunistischen DDR wurde gerne in Kauf genommen. Es war eine psychotische Bewegung, wesentlich verstärkt durch die Berichterstattung der Massenmedien.
Anfang 1983 lief Willy Brandt, der bis dahin im Bundestag den NATO-Doppelbeschluß unterstützt hatte, zu dessen Gegnern über, die große Mehrheit eines sozialdemokratischen Parteitages desgleichen. Einige bildeten sich sogar ein, an der Spitze der Friedensbewegung Kanzler Kohl absetzen und selbst an die Regierung gelangen zu können. Kohl allerdings ist fest bei der Politik des Vorgängers geblieben. 1987 sahen wir uns beide durch den INF-Vertrag voll gerechtfertigt. Danach verlief sich die Friedensbewegung im Sande. Lediglich die Ablehnung atomarer Kraftwerke ist nachgeblieben (obschon die Sozialdemokratie ursprünglich die Kernkraftwerke beredt gefördert hatte). Nach dem Ende von Kohls Kanzlerschaft haben dann einige der späteren sozialdemokratischen Führungspersonen ihren über ein Jahrzehnt zurückliegenden Irrtum eingestanden, so auch Bundeskanzler Schröder. Darauf kam es aber längst nicht mehr an. Die Geschichte des NATO-Doppelbeschlusses bleibt ein Lehrbeispiel dafür, daß auch in einer Demokratie moralisch argumentierende Emotionen, untermischt mit Demagogie, durchaus stark genug werden können, die abwägende Vernunft beiseite zu schieben.
Spontane Entscheidungen
In den genannten Fällen stand jeweils viel Zeit zur Verfügung, durch Diskussion und sorgfältige Abwägung aller Argumente die eigene Entscheidung reifen zu lassen. Wenn dagegen ein Regierender eine wichtige Entscheidung unter großem Zeitdruck treffen muß, kommt es in hohem Maße auf ihn allein an. Entscheidung unter Zeitdruck bedeutet erhöhtes Risiko. Aber das Risiko trifft nicht ihn allein, es kann im Extremfalle seinen Staat und das ganze Volk treffen.
Manchmal hat die Person an der Spitze das Glück, sich bei ihrer Entscheidung auf moralische Kräfte im Volk stützen zu können. So Kanzler Kohl, als er im November 1989 die Chance zur deutschen Vereinigung erkannte und sie zu nutzen beschloß. So Kanzler Schröder, als er im September 2001 angesichts der islamistisch-terroristischen Attentate von New York und Washington den amerikanischen Freunden spontan die deutsche Solidarität erklärte – und abermals, als er zwei Jahre später beim amerikanischen Angriff auf den Irak die deutsche Beteiligung verweigerte.
Das Handeln von Kanzler Kohl am 28. November 1989 war ein Beispiel von weltpolitischer Bedeutung (ich habe es als Privatmann nur von weitem miterlebt). Im Osten Mitteleuropas gärte es. In Polen, in Ungarn, in der Tschechoslowakei und in der DDR regten sich mächtige Freiheitsbewegungen, massenhaft gingen Menschen auf die Straßen, und allenthalben wankte die kommunistische
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