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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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weltwirtschaftliche Landschaft sich gewaltig verändert. Dabei ist eine Reihe schwerwiegender Probleme offenbar geworden oder neu entstanden.
    Von den alten Problemen, welche die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts kennzeichneten, ist eigentlich nur die Notwendigkeit der weltweiten Rüstungsbegrenzung übriggeblieben. Angesichts der rund um den Globus zur Verfügung stehenden militärischen Vernichtungskraft, die heute mehr als tausendmal stärker ist als zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, liegt hier eine gewaltige Herausforderung. Deutschland hat schon vor Jahrzehnten durch den Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag (NPT) eine kleine Vorleistung erbracht. Außerdem haben wir uns 1990 durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag (die internationale Regelung der deutschen Vereinigung) und durch den KSE-Vertrag (über die Begrenzung der konventionellen Streitkräfte in Europa) einer militärischen Beschränkung unterworfen. Deshalb müssen wir ein Interesse daran haben, daß nicht in anderen Staaten der Welt eine unbegrenzte Rüstung stattfindet, und deshalb werden wirbei der Lösung des Problems mitreden wollen. Über die entscheidenden Hebel verfügen jedoch die Weltmächte USA, China und Rußland. Kleinere Hebel liegen außerdem bei den atomar gerüsteten Staaten Frankreich, England, Israel, Indien und Pakistan. Hinter diesen rangiert Deutschland lediglich als einer der »konventionell« gerüsteten Staaten. (Wie wir Deutschen dennoch zur Rüstungsbegrenzung beitragen können, will ich weiter unten erläutern.)
    Allerdings ist das alte Abrüstungsproblem, das die Welt aus dem vergangenen Jahrhundert geerbt hat, im öffentlichen Bewußtsein durch neue, nicht weniger komplexe Probleme verdrängt worden. Wenn man von Iran und Nordkorea, denen Absichten zur atomaren Bewaffnung unterstellt werden, und vom Nahen und Mittleren Osten absieht, dann sind die außenpolitischen Aktivitäten der meisten Regierungen heute stark auf Fragen und Aufgaben gerichtet, denen noch zu Zeiten des Kalten Kriegs, also bis ans Ende der achtziger Jahre, kaum besondere Aufmerksamkeit gewidmet wurde.
    Zwar hatte die politische Klasse in den USA, in Frankreich und England die ökonomische und soziale Not vieler Entwicklungsländer schon alsbald nach 1945 verstanden, die Errichtung der Weltbank und der Beginn der Entwicklungshilfe bezeugen das; die Vereinten Nationen, der Weltwährungsfonds (IMF) die Welthandelsorganisation (WTO) oder die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nahmen die souverän gewordenen Entwicklungsländer als formal gleichberechtigte Mitglieder auf. Aber die sich selbst als »Dritte Welt« begreifenden Entwicklungsländer blieben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts doch weitgehend unter sich, auch wenn sowohl die Sowjetunion als auch der Westen versuchten, einige Länder, die gestern noch abhängige Kolonien gewesen waren, politisch auf ihre Seite zu ziehen. Tatsächlich aber spielten selbst große Entwicklungsländer wie China, Indien, Indonesien oder Brasilien und so bedeutende Staatschefs wie Mao Zedong oder Jawaharlal Nehru nur eine Rolle am Rande der Weltpolitik. Es wird aber noch einige Zeit dauern, bis der Westen – zumal die USA – die schnell wachsende Rolle Chinas und Indiens realistisch erkennt – und Amerika wird noch länger brauchen, bis es sie zu respektieren lernt.
    Es wird auch noch einige Zeit dauern, bis bei uns die Auswirkungen der Bevölkerungsexplosion in Asien, Afrika und Lateinamerika bei gleichzeitiger Schrumpfung der europäischen Nationen begriffen werden. Im Laufe des letzten Jahrhunderts hat sich die Zahl der auf der Erde lebenden Menschen vervierfacht, bis gegen die Mitte des gegenwärtigen Jahrhunderts wird die sich gegenüber dem Jahre 1900 auf das Sechsfache steigern. Schon heute spüren wir die massenhafte Wanderung in Richtung Europa und Nordamerika. Aber kaum irgendwo in der EU erscheint das drängende Problem der kulturellen und politischen Integration befriedigend gelöst oder wenigstens auf dem Wege zur Lösung – so auch in Deutschland. Aus den daraus resultierenden ethnischnationalistischen Gegensätzen könnte sich bei weiterer Vernachlässigung ein weltpolitisch bedeutsamer Konfliktstoff ergeben.
    Zu den Weltproblemen, die erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts neu entstanden, gehören die schnell zunehmende technologische und ökonomische Globalisierung und die damit einhergehenden Verschiebungen der Gewichte. Zwar hat es einen umfangreichen weltweiten Handel schon zu den Zeiten von Marco Polo

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