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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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Diktatur. Für eine solche Lage gab es kein Programm, keine Theorie, kein Gesetz, keine Vereinbarung mit den Alliierten. Kohl hätte vorsichtig die weitere Entwicklung abwarten können, denn die mächtige Sowjetunion hatte in all jenen Staaten ihre Streitkräfte präsent. Doch der Kanzler entschloß sich spontan zur Initiative. Seine »Zehn Punkte« haben den internationalen Prozeß der deutschen Wiedervereinigung entscheidend vorangetrieben. Eine nahezu aus dem Stand vollbrachte glänzende Leistung der Vernunft. Das Ergebnis wiegt in meinen Augen die Fehler auf, die damals auch gemacht wurden. Angesichts des zu erwartenden Widerstands aus Moskau, Paris und London nahm Kohl ein erhebliches Risiko in Kauf. Wenn seine Initiative fehlgeschlagen wäre, dann wären viele über ihn hergefallen. So ist es nun einmal in der Demokratie: Wenn ein Politiker Erfolg hat, gibt man ihm recht und bestätigt sein Handeln; im Falle eines Mißerfolges zählen weder seine guten Absichten noch all seine Anstrengungen.
    In meiner politischen Laufbahn gab es zwei extreme Situationen, in denen schnelle Entscheidungen verlangt waren. Sie mußten getroffen werden, ohne daß ich mich auf ein Gesetz oder auf andere Handlungsanleitungen hätte stützen können. Im Februar 1962 war ich seit wenigen Wochen im Amt eines hamburgischen Innensenators, als meine Heimatstadt völlig überraschend von einer zerstörerischen Sturmflut heimgesucht wurde. In der ersten Nacht hatte es bereits Hunderte von Toten gegeben, und man mußte mit der Möglichkeit von Tausenden weiteren Toten rechnen. Bei der spontan zu improvisierenden Rettungsaktion habe ich damals mehrere Gesetze und wahrscheinlich auch das Grundgesetz verletzt. So haben sich Truppen der Bundeswehr meiner unbefugten Weisung unterstellt; wir haben gefährdete Menschen gegen ihren Willen aus ihren Wohnungen geholt; wir haben den geretteten Menschen entgegen dem Haushaltsrecht Geld in die Hand gegeben, damit sie sich in den intakt gebliebenen Stadtteilen das Nötigste kaufen konnten. Ich muß gestehen, über diese Gesetzesverstöße damals nicht nachgedacht zu haben. Vielmehr ließ ich mich allein von der moralischen Pflicht leiten, Menschen in großer Zahl aus unmittelbarer Lebensgefahr zu retten. Ich hatte später das Glück, von keiner Seite angeklagt zu werden.
    15 Jahre später erlebten wir in Deutschland eine Tragödie, die Filmemacher und Journalisten später unter das Schlagwort vom »Deutschen Herbst 1977« gestellt haben. Das Schlagwort unterschlägt die islamistisch-terroristische Beteiligung. In einer Art tragischen Vorspiels hatte 1972 das palästinensisch-islamistische Attentat auf die israelische Olympia-Mannschaft in München gezeigt, mit welcher verbrecherischen Energie man es zu tun hatte. Auch wenn es sich beim Abwehrkampf gegen den mörderischen Terrorismus der Baader-Meinhof-Leute, die sich selbst Rote Armee Fraktion nannten, nicht um eine einmalige Sofort-Entscheidung handelte, sondern um ein sich über drei Regierungsperioden hinziehendes Drama, so gab es doch zahlreiche Augenblicke, in denen eine Ad-hoc-Entscheidung notwendig wurde. Nur ungern erinnere ich mich an die quälenden Zweifel und Ängste, die man ausstehen mußte, und an die nächtelangen Erwägungen, welche Maßnahmen wir ergreifen sollten. Später wurde geschrieben, wir hätten aus Gründen der Staatsräson gehandelt – aber wie hohl klingt dieses Wort angesichts der seelischen Qualen, welche die betroffenen Geiseln und ihre Familien, viele der deutschen Mitbürger und so auch wir durchstehen mußten, die wir Entscheidungen zu treffen hatten. Staatsräson? Tatsächlich war es in diesen Augenblicken nichts anderes als das schmerzhaft im Gewissen geprüfte Fazit unserer politischen Lebenserfahrung, unserer Vernunft und unserer moralischen Einsicht, das uns hat handeln lassen.
    Die Regierung Brandt/Scheel hatte die drei überlebenden Terroristen des Münchner Anschlags acht Wochen nach ihrer Verhaftung gegen Passagiere und Besatzung eines entführten Flugzeugs ausgetauscht. Als drei Jahre später die RAF in Berlin den Berliner Politiker Lorenz entführt hatte und ihn zu töten ankündigte, um einige im Gefängnis einsitzende Terroristen freizupressen, befanden sich die Regierenden abermals in einem moralischen Dilemma. Der Westberliner Regierende Bürgermeister Schütz, der Bonner Oppositionsführer Kohl und ich als Bundeskanzler entschieden gemeinsam, das Leben von Peter Lorenz zu retten und die einsitzenden

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