Ausser Dienst - Eine Bilanz
Noch wenige Jahre zuvor hatten sie uns im Gegenteil die Beteiligung an einer gemeinsamen atomaren Streitmacht angetragen (Multilateral Force, MLF). Wie auch immer Deutschland sich entschied, in jedem Fall würden vornehmlich amerikanische Atomwaffen auf westdeutschem Boden verbleiben, so wie sowjetische Atomwaffen auf ostdeutschem Territorium. Viele haben damals den Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag aus moralischen Motiven befürwortet, manche aus pazifistischen Motiven, andere – so auch ich – aus Gründen der Zweckmäßigkeit und der Vernunft. Die Gegner des Beitritts – damals die Mehrheit der Kollegen der CDU/CSU – führten ebenfalls sowohl moralische als auch vernunftgeleitete Gründe ins Feld: Weil Deutschland von sowjetischer Seite atomar bedroht wurde, erschien es ihnen selbstverständlich, für Deutschland die Möglichkeit offenzuhalten, sich gleichfalls mit atomaren Waffen zu rüsten. Wiederum bot weder das Grundgesetz noch die Bibel eine Richtlinie: Sowohl der Beitritt als auch die Verweigerung des Beitritts zum NPT waren erlaubt. Im Ergebnis hat die Große Koalition die Entscheidung vor sich hergeschoben, die Regierung der nachfolgenden sozialliberalen Koalition hat dann den Beitritt beschlossen. Im Frühjahr 1970 wurde mit deutlicher Bundestagsmehrheit der internationale Vertrag über die Nichtverbreitung atomarer Waffen ratifiziert.
Mein drittes Beispiel für einen länger andauernden Konflikt zwischen Moral und zweckgerichteter Vernunft ist der Streit um den NATO-Doppelbeschluß. Mitte der siebziger Jahre war ich in zunehmender Sorge wegen einer speziell Mitteleuropa und Deutschland bedrohenden sowjetischen atomaren Rüstung. Es handelte sich um Flugzeuge und insbesondere um Raketen (SS 20) von mittlerer Reichweite, die beide atomar bestückt waren, die aber nicht über den Atlantik reichten. Sie bedrohten also nicht die USA, sondern waren vornehmlich auf deutsche Ziele gerichtet. Der amerikanische Präsident Ford teilte meine Besorgnis und hatte die Absicht, mit der Sowjetunion darüber Verhandlungen aufzunehmen. Sein Nachfolger Carter, der 1977 ins Amt kam, war ganz anderer Ansicht. Er verwies mich auf die Fähigkeit der USA, jeden sowjetischen Angriff auf Deutschland mit Hilfe von weitreichenden amerikanischen Atomraketen zu beantworten. Das reiche aus, die sowjetische Führung abzuschrecken. Carter war in militärstrategischen Fragen damals noch ein Dilettant.
Ich hatte mich seit den fünfziger Jahren sorgfältig mit Fragen der Verteidigung und der atomaren Abschreckung beschäftigt und darüber 1961 unter dem Titel »Verteidigung oder Vergeltung« auch ein Buch veröffentlicht. Ich wußte: Ein atomarer Schlagabtausch konnte Deutschland vernichten. Deshalb durfte man sich nicht auf die amerikanische Drohung mit atomarer »Vergeltung« (retaliation) und auf die atomar-strategische Überlegenheit der USA verlassen. Man mußte vielmehr eine Strategie des militärischen Gleichgewichts verfolgen. Ich war außerdem durchaus unsicher, ob in einer zukünftigen Situation der Weltpolitik, im Falle einer speziell auf die Bundesrepublik gerichteten sowjetischen Pression, die auf die Zerstörung Deutschlands durch atomare Raketen zielte, ob in einer solchen Lage eine amerikanische Regierung willens sein würde, Deutschlands wegen die USA selbst den Risiken eines atomaren Krieges auszusetzen. Auch war ich ganz unsicher, ob in einer solchen Situation die deutsche öffentliche Meinung und die dann im Amt befindliche deutsche Regierung dem sowjetischen Druck würde standhalten können.
Weil Carter unnachgiebig blieb, habe ich im Oktober 1977 vor einem kleinen Kreis von diplomatischen und militärischen Fachleuten in London Alarm geschlagen. Jener Abend führte, mehr als ein Jahr später, Anfang 1979 zu einem Vierer-Treffen auf der karibischen Insel Guadeloupe – Carter, Giscard d’Estaing, Callaghan und ich–, wo wir mit entscheidender Hilfe durch meinen französischen und meinen englischen Freund gemeinsam den Doppelbeschluß konzipierten. Ende des gleichen Jahres machte sich der NATO-Rat den Beschluß zu eigen. Einerseits bot der Westen der Sowjetunion an, mit ihr über die Beseitigung der Mittelstreckenwaffen zu verhandeln. Andererseits kündigte er an, sofern nach Ablauf von vier Jahren kein Verhandlungsergebnis zustande käme, selbst atomare Mittelstreckenraketen zu installieren, die auf sowjetisches Gebiet zielen und so in Europa ein atomares Gleichgewicht herstellen würden.
Weil der neue
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