Ausser Dienst - Eine Bilanz
jeden technischen Fortschritt der Europäer binnen weniger Jahre einzuholen. Diese Entwicklung wird sich weiter fortsetzen, und die zeitliche Spanne, welche die Asiaten brauchen, um technologisch zu den Europäern aufzuschließen, wird wahrscheinlich zunehmend kürzer werden. Ob wir uns in diesem Wettbewerb behaupten können, wird entscheidend davon abhängen, daß wir unsere Wissenschaft und Forschung, unsere Universitäten und Schulen, unsere gesamte berufliche Ausbildung zu höheren Leistungen befähigen als gegenwärtig.
Dieser Wettbewerb ist für Deutschland keineswegs aussichtslos. Unsere eigene Wirtschaftsgeschichte in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hat gezeigt, daß wir angesichts der damals aufkommenden starken amerikanischen Konkurrenz zu großen wissenschaftlichen und technischen Leistungen und zu einer enormen Steigerung unserer wirtschaftlichen Leistungskraft fähig waren. Im 20. Jahrhundert ist uns dies trotz zweier zerstörerischer Weltkriege abermals gelungen. Trotz unerhörter Opfer, trotz mehrerer Staatszusammenbrüche, trotz Nazi-Zeit und über vier Jahrzehnte anhaltender Teilung der Nation haben wir nicht nur einen bislang ungekannten allgemeinen ökonomischen Wohlstand und dazu einen weitreichenden Wohlfahrtsstaat erreicht, sondern vor allem eine in der deutschen Geschichte einmalig stabile demokratische Ordnung. Dazu kommt der in der europäischen Geschichte einzigartige, noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbare Zusammenschluß von mehr als zwei Dutzend europäischen Staaten. Wer diese Erfolgsgeschichte vor Augen hat, wird sich keinen Angstvorstellungen hingeben, wir wären im 21. Jahrhundert weniger fähig, den sich anbahnenden globalen Wettbewerb zu bestehen.
Allerdings müssen wir den dynamisch sich wandelnden Zustand der Weltwirtschaft in unsere Überlegungen einbeziehen. Unsere öffentliche Meinung muß verstehen lernen, daß die Weltwirtschaft sich seit den achtziger Jahren auf zweifache Weise tiefgreifend verändert hat: Im Laufe des letzten Vierteljahrhunderts haben wir es zum einen mit einem in der Geschichte niemals zuvor erfolgten Qualitätssprung zu tun und zum anderen mit einem einmaligen Quantitätssprung. Die qualitative Veränderung liegt in der ungewöhnlichen Beschleunigung des technischen Fortschritts und dessen schneller Ausbreitung über fast die gesamte Welt. Die Entfaltung moderner Techniken allein in den Bereichen Verkehr und Telekommunikation hat die Welt des Jahres 2000 im Vergleich mit der Welt des Jahres 1900 stärker verändert, als sie in den vierhundert Jahren zuvor, seit Beginn der Neuzeit um 1500, verändert wurde. Heutzutage ist dank riesenhafter Containerschiffe, dank der Flugzeuge, dank der über Satelliten verbundenen Computer und vor allem dank des Internet nahezu jeder wissenschaftliche Fortschritt und fast jede neue Technologie ohne Zeitverlust rund um die Erde verfügbar. Es bedarf nur ausreichend ausgebildeter Intelligenz, um den gleichen Fortschritt in allen Kontinenten anzuwenden. Die schnelle Globalisierung von Wissenschaft und Technik macht weit entfernt voneinander lebende Völker nicht nur zu Nachbarn, sondern auch zu Konkurrenten. Wer in der Konkurrenz mithalten will, braucht Intelligenz und Ausbildung, das heißt: Er braucht Schulen und Universitäten.
Der Quantitätssprung liegt in einer nie zuvor erlebten Vervielfachung der Zahl von Menschen, die am weltwirtschaftlichen Austausch beteiligt sind. Hier wirken sich vor allem zwei Faktoren aus. Zum einen hat sich durch die Öffnung Chinas und durch die Auflösung der Sowjetunion samt ihres Satellitenreichs die Zahl der potentiell an der Weltwirtschaft beteiligten Menschen im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte verdoppelt. China allein ist seither von rund 900 Millionen auf über 1300 Millionen gewachsen, und es wird weiterhin wachsen.
Das Wachstum der Menschheit über das Jahr 2050 hinaus ist schwer abzuschätzen. Jedenfalls werden im Jahr 2050 sowohl China allein als auch Indien allein etwa ebenso viele Einwohner zählen, wie noch im Jahr 1900 auf der gesamten Welt gelebt haben. Dieses ungewöhnliche Wachstum findet vornehmlich in Asien sowie in Afrika und Südamerika statt, kaum in Nordamerika, überhaupt nicht in Europa, Rußland und Japan. Der pro Person verfügbare Raum auf den bewohnbaren Flächen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas wird nochmals um ein Drittel schrumpfen. Heute schon lebt die Hälfte der Menschheit in Städten, in Zukunft werden immer mehr Menschen
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