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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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zufriedenzugeben. Je länger diese Verzichtsbereitschaft anhält, um so eher kann ein Entwicklungs- oder Schwellenland zu den wohlhabenden Staaten aufschließen.
    Dauerhafter Wohlstand ist nur möglich auf der Basis eines gesicherten äußeren Friedens. Auf sich allein gestellt, ist keiner der zweihundert Staaten der Erde in der Lage, seinen äußeren Frieden zu bewahren. Das gilt sogar für die militärische Supermacht USA, die sich von der im verborgenen agierenden terroristischen al-Qaida zu einem Krieg gegen Afghanistan und zu einem Krieg gegen den Irak herausgefordert sah; beide Kriege können sich über den ganzen Nahen und Mittleren Osten ausbreiten. Auch die Aufrechterhaltung des inneren Friedens bleibt für viele Staaten eine höchst prekäre Aufgabe – beispielhaft sei auf die kaukasischen Teile Rußlands, auf Pakistan, auf den Sudan hingewiesen–, deshalb nimmt die Zahl der von den Vereinten Nationen unternommenen militärischen Friedensmissionen seit Jahrzehnten zu.
    Allerdings erscheint es heute sehr unwahrscheinlich, daß ein allgemeiner Krieg vom Ausmaß des Dreißigjährigen Krieges oder der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts oder auch nur ein »kalter Krieg« sich wiederholen könnte. Aber selbst kleine Kriege können die eng vernetzte Weltwirtschaft schwer behindern und einzelne Staaten in ihrer ökonomischen Existenz und ihrem Wohlstand gefährden. Schon die vergleichsweise begrenzten Kriege zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn haben in den siebziger Jahren auf dem Weg über die explodierenden Ölpreise die gesamte Weltwirtschaft erschüttert. So bleibt auch im 21. Jahrhundert der Frieden eine der wichtigsten, aber nach wie vor gefährdeten Rahmenbedingungen der Weltwirtschaft. Um so notwendiger ist der Versuch der europäischen Staaten, durch den Zusammenschluß zur Europäischen Union den Frieden wenigstens auf dem eigenen Kontinent zu sichern.
    Die Mitgliedsstaaten der EU und vornehmlich ihre Regierungen und Politiker müssen wissen: Das Gedeihen ihrer Volkswirtschaft und der Wohlstand ihrer Gesellschaft hängen sehr weitgehend von der Stabilität der Weltwirtschaft ab und deshalb vom Frieden in der Welt. Das gilt besonders für den Nahen und den Mittleren Osten, für West- und Zentralasien; es gilt für den Frieden zwischen dem Westen und dem Islam. Die fortschreitende, inzwischen unumkehrbar gewordene Globalisierung von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft zwingt uns zur Aufrechterhaltung des Friedens.

Raubtierkapitalismus –
was kann dagegen getan werden?
    Möglicherweise gehen die größten weltwirtschaftlichen Gefährdungen künftig von den globalisierten Finanzmärkten aus. Ich habe die Auswüchse, die sich hier seit einigen Jahren erkennen lassen, Raubtierkapitalismus genannt. Seine Anfänge reichen zurück in die frühen siebziger Jahre, in die Zeit der WechselkursUnordnung nach dem Zusammenbruch des Bretton Woods-Systems. Aus ein paar Spekulanten, die damals aus der Freigabe der Wechselkurse Profit zogen, wurden inzwischen Zehntausende, die international auf alle nur denkbaren künftigen Ereignisse spekulieren. Der eine spekuliert auf einen fallenden Dollar: Er verkauft, fällig zu einem künftigen Termin, eine große Summe in Dollar gegen Euro; er hat die Dollars zwar nicht, erwartet aber, sie sich später, zum vereinbarten Termin, billiger als heute beschaffen zu können. Der andere spekuliert umgekehrt auf einen fallenden Euro. Beide können aber auch, statt sich zur Lieferung oder zur Abnahme der jeweils anderen Währung zu verpflichten, lediglich eine Option vereinbaren, dann steht es ihnen später frei, das Geschäft auszuführen oder vom Geschäft zurückzutreten – alles natürlich gegen Gebühren.
    Derartige Spekulationsgeschäfte werden heute weltumspannend binnen Sekunden abgeschlossen. Dabei bedient man sich neuartiger Wertpapiere, genannt financial derivatives ; die meisten derivatives sind allerdings unendlich viel komplizierter als mein Beispiel. Es gibt heute Hunderttausende verschiedener Derivate; sie sind mit undurchsichtigen Risiken und Chancen verknüpftund werden nicht über eine öffentliche Börse, sondern im verborgenen gehandelt. Unter den Chefs der Großbanken der Welt kann kaum einer das Feld überblicken und beurteilen. Gleichwohl stellen die Transaktionen mit Derivaten aller Art heute das wichtigste Aktionsfeld der Investmentbanken, der Hedge-Fonds, der Private Equity-Gesellschaften und anderer privater Finanzinstitute dar. In ihrer

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