Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
Vom Netzwerk:
zusammengeballt in riesigen Metropolen leben. Ich halte die Urbanisierung an sich nicht für problematisch – jede Kultur setzt Urbanisierung voraus. Was mich mit Sorge erfüllt, ist die damit einhergehende Vermassung. Riesenstädte wie Chongqing oder Mexico City, Kairo oder São Paulo sind schwer zu verwalten und kaum unter Kontrolle zu halten. In Deutschland würde das übrigens nicht anders aussehen; wenn Berlin eine Zehn-Millionen-Metropole wäre, könnte die Aufrechterhaltung der demokratischen Ordnung in einigen Bezirken gefährdet sein.
    Die Tendenz, übermäßig bevölkerte Landschaften zu verlassen, wird wachsen, die Zahl der Elendsflüchtlinge wird weiter steigen. Auch die Wahrscheinlichkeit von politischen Konflikten, von Kriegen und Bürgerkriegen wird zunehmen. Die politischen und kulturellen Aspekte, die sich aus diesem Prozeß für die gesamte Menschheit ergeben, will ich hier beiseite lassen und allein die ökonomischen Auswirkungen betrachten. Der Intelligenzquotient der Menschen in Ostasien ist dem der Europäer keineswegs unterlegen. Weil es ihnen bisher aber an Ausbildung fehlte, um die neuen Technologien anzuwenden, sind sie technisch und wirtschaftlich um einiges hinter den meisten Europäern und Nordamerikanern zurückgeblieben.
    Die Japaner waren die ersten, die sich in dieser Lage bewußt und zielgerichtet zu einer Änderung ihrer Politik entschlossen. Nach jahrhundertelanger Abschottung von der Außenwelt haben sie ihr Land in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts für den Westen geöffnet. Gleichzeitig haben sie in einer die Gesamtheit des Volkes umfassenden Reform großen Stils Schulen und Universitäten errichtet. Nach nur zwei Generationen, bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts, hatte Japan technologisch, ökonomisch und militärisch zum Westen aufgeschlossen. Seit den siebziger Jahren sind die Japaner zu vollwertigen wirtschaftlichen Konkurrenten der Europäer und Nordamerikaner geworden. Südkorea, Taiwan, Singapur und Hongkong sind dem japanischen Beispiel gefolgt – mit erstaunlichen Ergebnissen, nicht zuletzt mit einer allgemeinen Wohlstandssteigerung. Und seit der Öffnung Chinas durch Deng Xiaoping Ende der siebziger Jahre hat sich auch das riesenhafte chinesische Volk auf diesen Weg begeben.
    China war bis dahin von der Welt abgeschlossen, seine Bedeutung für die Weltwirtschaft ist zu Mao Zedongs Zeiten bestenfalls marginal gewesen. Heute, drei Jahrzehnte später, ist China kaum noch wiederzuerkennen. Meine erste Reise nach China fand 1975 statt, vor mehr als dreißig Jahren. Seitdem habe ich die Volksrepublik regelmäßig besucht. Wenn ich heute nach Peking oder Guangzhou oder Shanghai komme, die ich damals zuerst besucht habe, bin ich verblüfft und beeindruckt von den enormen Ergebnissen der kraftvollen Beseitigung der alten kommunistischen Zwangswirtschaft. China wird in wenigen Jahrzehnten – hinter den Vereinigten Staaten von Amerika – die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt sein, Mitte des Jahrhunderts möglicherweise sogar die größte Volkswirtschaft. Weil es sich um die bevölkerungsreichste Nation der Welt handelt – mindestens viermal so groß wie die USA, zehnmal so groß wie Japan, fünfzehnmal so groß wie Deutschland –, wird sich der Modernisierungsprozeß Chinas wahrscheinlich nicht so schnell vollziehen wie zuletzt in Singapur, Hongkong, Taiwan und Südkorea oder früher in Japan. Auch wird der durchschnittliche Lebensstandard der Chinesen noch weit zurückbleiben. Große Teile Chinas werden noch lange auf dem Wohlstandsstatus eines Entwicklungslandes verharren. Zugleich aber werden einige Provinzen und Städte Chinas relativ schnell die wissenschaftlichen Standards, das technologische Niveau und später auch die ökonomische Leistungsfähigkeit Europas erreichen.
    Viele Völker der Erde werden sich bemühen, diesem Beispiel zu folgen, so die Inder und die Vietnamesen, ebenso einige der ölreichen arabischen Staaten, auch der Iran, möglicherweise auch Brasilien. Denn die Globalisierung von Wissenschaft und Technologie ist nicht mehr umkehrbar. Ob und wie weit ein Volk sie nutzt, hängt ab von seiner Vitalität, seiner politischen Führung, seiner gesellschaftlichen Verfassung – und von der Fähigkeit seiner Regierung, den äußeren und inneren Frieden zu wahren. Gemeinsam wird aber den bisherigen Entwicklungs- und Schwellenländern die Bereitschaft sein, sich im Vergleich zu Europa und Nordamerika mit geringeren Löhnen und Sozialleistungen

Weitere Kostenlose Bücher