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Außer sich: Roman (German Edition)

Außer sich: Roman (German Edition)

Titel: Außer sich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Fricker
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die nichts mehr hatten von der kühnen Unbeschwertheit seiner früheren Zeichnungen.
    Ich legte alles in sein Nachttischchen, die Book Darts darauf.
Hold that Thought
.
    Nachdem die Ärzte die Epilepsie in den Griff bekommen hatten, machte Sebastian Fortschritte. Schneller als gedacht und trotz der Nebenwirkungen. Kosten und Nutzen, der Nutzen überwiege in diesem Fall eindeutig. Ganz eindeutig, sagten die Ärzte zufrieden. Gut eingestellt: Keppra als Dauermedikation. Das Neueste vom Neuen, sauteuer, aber das Beste, was wir haben, derzeit. Diazepam (Tropfen) als Bedarfsmedikation bei Anfällen, dies und das und jenes, um die Nebenwirkungen zu unterdrücken.
    Sebastian wurde in eine Rehaklinik außerhalb der Stadt verlegt. Die erste Zeit wohnte ich mit ihm dort draußen. Wir teilten uns die Tage und Nächte. Zimmer 239. Es sah aus wie alle anderen Zimmer in der Klinik. Altrosa und schweinchenrosa. Pink und blassrosa. Nie hätte Sebastian früher freiwillig in einem solchen Zimmer länger als eine Nacht gewohnt. An der Wand hing ein Druck von Chagall, der Rahmen war festgeschraubt. Aus dem Fenster sah man auf den Parkplatz, auf Wald und über einen See.
    Flure, Glastüren, Treppenhäuser. Gummibäume aus Plastik. Glatt verputzte weiße Wände, abwaschbar, desinfizierbar. Eine Cafeteria, die meistens geschlossen war. Ärzte wehten zu zweit oder zu dritt mit flatternden Kitteln durch die Flure. Die Krankenschwestern trugen über den Kitteln pastellfarbene Jäckchen. Angestellte und Angehörige waren zu Fuß unterwegs, die Patienten bewegten sich berädert fort. Ein geschäftiges Hin und Her. Manche rollten ihr Sitzgefährt flink mit beiden Füßen trippelnd vorwärts, andere mit nur einem Bein ziehend, mühsam schiebend. Wieder andere, aber seltener, drehten die Räder mit der Kraft ihrer Arme. Gegenverkehr. Ausweichen, anhalten, ein paar Worte wechseln, weiterfahren.
    Wenn Sebastian schlief, ging ich hinaus. Stand auf dem riesigen Parkplatz. Schilder, überall Schilder: Reserviert für Ärzte. Ergotherapie. Raucherinsel. Lieferanteneinfahrt. Taxihalt. Krankenwagen hielten vor dem Eingang. Menschen auf Bahren oder in Rollstühlen wurden ausgeladen. Die Fahrer warteten daneben und rauchten eine Zigarette. Jenseits des Parkplatzes war Wald. Kiefernstämme, sandige Wege, nach starken Regenfällen von Rinnsalen, feinen Kanälen durchzogen.
    Ginge ich in den Wald, wüsste ich nicht, ob ich den Weg zurück wiederfände. Längs der Straße lag Abfall an der Böschung. Aus fahrenden Fenstern geworfene Bonbontüten, Kaffeebecher, angebissene Brote. Ein Stück weiter, neben einer Parkbucht, stand ein Sofa, das Polster zerrissen, durchnässt, dahinter lag eine Waschmaschine. Ein Weg führte in den Wald. Ich folgte ihm, folgte der Verlockung, mich zu verirren. Blickte ich vor mir auf den Boden, sah ich Schuhe, geschnürte, halbhohe Schuhe, die auftraten, abrollten, Schritte machten. Vorwärts. Die Geräusche der Straße wurden leiser. Eine Grasnarbe, ein moosbedeckter Weg jetzt. Kein Vogel sang, kein Unterholz wuchs zwischen den schlanken Stämmen. Blickte ich hoch zum Himmel, sah ich eine Schneise, schnurgerade in den Wald gefräst, gefasst von den Nadelquasten der Kiefern. Ich kam zu einer Kreuzung. Ein Schild zeigte nach rechts: Klinik. Ich ging nach links. Weiterhin gerader Weg, Schneise, kein Unterholz. Der Himmel darüber war grau, gräulich. Schritt für Schritt, geräuschlos. Bis zur nächsten Abzweigung, wieder geometrisch genau. Wegkreuzung, Himmelskreuzung. Vier Schilder wiesen in vier Richtungen. Fein säuberlich stand auf allen Schildern: Klinik. Ein anderes Ziel war hier wohl nicht vorgesehen. Ich schlug einen der Wege ein, es spielte ja keine Rolle, welchen. Ging eine Weile. Bald hörte ich Motorengeräusche. Sah zwischen den Stämmen das Beige des abgestellten Sofas. Ich querte die Straße, ging über den Parkplatz zum Eingang. Den Weg zu unserem Zimmer hätte ich auch mit geschlossenen Augen gefunden. Flur, Treppe, drittes Geschoss, wieder Flur, zweite Tür rechts. Ich trat ein. Ich setzte mich, nahm seine Hand, da wachte er auf. Hallo, Bastian. Gut geschlafen?
    Sebastians Tag-Nacht-Rhythmus stabilisierte sich. Nach und nach wurden die Schläuche entfernt. Der Katheter blieb. Die Spastik verhinderte ein vollständiges Leeren der Blase. Auch die Stuhlinkontinenz blieb. Das motorische Zentrum jedoch war kaum betroffen. Um die Beweglichkeit zu erhalten, beugte man vorsichtig die Gelenke, streckte sie, dehnte die

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