Außer sich: Roman (German Edition)
Programmiert auf Sebastian.
Die Tür stand einen Spalt breit offen. Ich schlüpfte hinein. Nahm einen Stuhl, setzte mich. Sebastian schlief mit halb offenen Augen. Er hatte einen seltsamen Helm auf dem Kopf. Eine Art Polsterhelm mit Ohrenklappen, unter dessen Rand das weiße Flies eines Verbandes zu sehen war. Ich suchte seine Hand. Ich strich ihm übers Gesicht. Um den Mund zuckten Muskeln. Siehst du, er merkt, ich bin da. Leise begann ich, ein Lied zu singen. Es fiel mir eben so ein.
Belle qui tiens ma vie
… Ich hatte lange nicht mehr gesungen, und es klang heiser und ziemlich falsch. Ich merkte, wie sich meine Augen mit Tränen füllten. Nachdem ich wochenlang nicht hatte weinen können. Eine Schwester, die ich noch nie gesehen hatte, streckte den Kopf zur Tür herein, sie aber schien mich zu kennen. Geht es Ihnen besser, fragte sie. Ich nickte. Sie schloss sacht die Tür.
Später fuhr ich in die Stadt.
Ich gehörte nicht dazu, ich konnte nicht dazugehören. Ich bewegte mich unter Menschen und saß doch auf einem anderen Planeten. Durchs Fernglas: Sah, wie Leben wäre, wenn man leben würde. Alltäglich. Normal. Nichts wünschte ich mir sehnlicher zurück als diese Alltäglichkeit. Zwei Frauen schlendern die Straße entlang. Die eine bleibt stehen, die andere geht weiter. Warte mal! Schau mal hier, die Tasche. Die andere kommt zurück, schaut. Nichts weiter.
Flitter, Glitter, Firlefanz.
Zwei Frauen stehen auf einem breiten Gehweg und unterhalten sich. Für einen Moment achtet niemand auf das Kind, das daneben steht und plötzlich auf der anderen Straßenseite etwas entdeckt. Sich in Bewegung setzt, ohne den Raum dazwischen, die stark befahrene Straße, im Geringsten wahrzunehmen. Erst im allerletzten Augenblick. Die Mutter springt erschrocken hinter ihrem Kind her, schreit Henri! Henri! Das Kind bleibt stehen, dreht sich um, sieht die Mutter, gluckst und giggelt, und bevor es, wie im Spiel, das sie zusammen so oft gespielt haben, vor der Mutter weglaufen kann, ist sie bei ihm, packt es, schließt es fest in die Arme. Nichts passiert. Nicht jeder kleine Fehler hat gleich Konsequenzen.
Ich war zwölf, als in unserem Viertel am Rand der Kleinstadt ein Fuchswelpe überfahren wurde. Über zwei Jahre kam die Füchsin täglich zur selben Zeit zurück zu der Stelle, an der ihr Junges überfahren worden war. Zehn Minuten lang leckte sie den Asphalt. Mitten auf der Straße. Jeder, der im Viertel wohnte, kannte die Füchsin. Man hielt an, man fuhr vorsichtig vorbei, um sie nicht zu stören. Selbst den Jäger rührte das Verhalten des Tieres. Nach menschlichem Ermessen konnte das Blut des Welpen nicht mehr zu riechen sein, auch für eine Fuchsnase nicht. Man nannte die Füchsin Elsa. Eines Tages kam sie nicht mehr. Auch am nächsten und übernächsten Tag blieb sie verschwunden. Wir suchten sie, aber wir fanden sie nicht.
Die Mutter verabschiedet sich von ihrer Freundin, nimmt Henri an die Hand. Sie gehen ein Stück die Straße entlang, ich folge ihnen. Dann links, über eine Ampel, geradeaus. Sie betreten ein Biokaufhaus, die Frau legt ein Brot, Bohnenkaffee Fair Trade, Büffelmozzarella und eine Flasche Sanddornsaft in den Korb, muss anstehen an der Kasse, bezahlt mit Karte. Packt alles in die mitgebrachte Tüte, hängt sie sich über die Schulter, nimmt Henris Hand. Sie queren die Straße wieder an der Ampel und verschwinden in einem Hauseingang.
Hinter mir hörte ich es klingeln, dann quietschen, dann, kannste nich aufpassen? Ich stand mitten auf dem Fahrradstreifen. Schnell trat ich einen Schritt zur Seite. Erneutes Quietschen, Fluchen. Unachtsam war ich einem anderen Radler, der mir hatte ausweichen wollen, in die freie Fahrt getreten. Ich ging weiter. Zerfetzte Feuerwerkskörper, abgebrannte Vulkane, Holzstäbchen, Scherben, Erbrochenes. Die Reste der Silvesternacht waren hier auch am dritten Tag des neuen Jahres noch nicht weggeräumt worden. Wenn ich dort vorne abböge, käme ich zu Sebastians Townhouses. Ich bog ab. Sah am Ende der Stichstraße eine Art Tor. Dahinter lag ein parkähnliches Gelände. Gesäumt von zweistöckigen typengleichen Reihenhäusern mit Terrassen. Das hier war Sebastians letztes größeres Projekt gewesen:
Ernas Höfe, Lebensqualität – Kompromisslos!
Die Häuser waren, fand ich, ziemlich gut geworden. Die Wohnungen waren schnell verkauft gewesen. Das Bedürfnis nach reinem, ungestörtem Leben unter seinesgleichen. Junge Familien wohnten hier. Sortiert, wohl geordnet. Als wäre es
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