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Außer sich: Roman (German Edition)

Außer sich: Roman (German Edition)

Titel: Außer sich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Fricker
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dich ins Office, am Telefon ist deine Mutter. Darling (sie sagte immer Darling), Darling, es tut mir soo leid. Aber dein Vater kann die Baustelle nicht allein lassen. Du musst das verstehen. Ich war zehn Jahre alt. Man hatte mir beigebracht, nicht zu weinen. Die Sekretärin Miss Jordi sah mich an. Mit ihrem großen Daumen, mit ihrem langen, rot lackierten Fingernagel fuhr sie auf mein Gesicht zu. Ich zuckte zurück. Aber sie wollte mir nur die Tränen von der Wange wischen. An dem Tag aß ich nichts, auch am nächsten Tag aß ich nichts. Ich glaube, ich habe meine Eltern in diesem Jahr nur in den großen Ferien gesehen.
    Ich weiß, sagte Thomas, das ist keine besondere Geschichte, das ist die Aneinanderreihung von Klischees über Kinder aus reichem Haus. Er drehte einen Joint, zündete ihn an und bot mir den ersten Zug. Wir rauchten schweigend. Mit dem Wind schwoll die Lautstärke der Musik an und ebbte wieder ab. Wasser platschte an die Bordwand, die Fender quietschten.
    Ich wurde dünner und dünner, sagte Thomas. Einzig braunes Brot und Paprika aß ich noch. Ich wollte meine Eltern bestrafen, ich wollte, dass sie sich Sorgen machten. Aber sie machten sich keine Sorgen. Sie machten sich erst Sorgen, als es mir wieder gut ging. Du glaubst es nicht, keiner sah, dass ich immer dünner wurde, bis auf Miss Jordi. So ein scheißteures Internat und keiner schaut hin. Nur Miss Jordi mit ihren wahnsinnig langen, rot lackierten Fingernägeln. Miss Jordi, die man in diesen Kreisen nicht für voll nahm. Sie brachte mir Sandwichs mit. Und Schokolade. Ich durfte die Schulaufgaben bei ihr im Office machen. Ab und zu hob sie den Blick und sah mich an. Und wenn ich sage, sie sah mich an: Sie sah mich wirklich an, nicht mitleidig, nicht wie man als kleine Angestellte so ein wohlstandsverwahrlostes Kind ansieht und sich endlich sicher sein darf, dass Geld auch nicht glücklich macht.
    Miss Jordi besaß einen alten, cremefarbenen Austin Minor mit knallroten Plastiksitzen. Wir fuhren zusammen ans Meer. Ab und zu besuchten wir ihre Eltern auf den Scilly IsIands. Lilly und Eddy. Sie wohnten in einem Steinhaus mit blauen Fensterläden. Miss Jordi war hier aufgewachsen. Ich verstand nicht, wie man von so einem Ort weggehen kann. Das sagte ich ihr. Es war das erste Mal, dass ihr Ton mir gegenüber scharf wurde. Es gibt eben Leute, sagte sie, die müssen Geld verdienen! Ich verstand nicht, was sie damit meinte. Bei schönem Wetter fuhren wir mit Eddys Kutter hinaus, so weit, bis die Insel nur noch als schmaler Streifen zu sehen war. Lilly wartete zu Hause. Lilly hatte einen fantastischen Garten und Angst vor dem Meer. Nach und nach wurden sie zu meiner Familie, vermutlich retteten sie mir das Leben. Thomas sah mich an. Ich kämpfte mit der Müdigkeit, die Augen fielen mir beinahe zu. Wie eine Erscheinung stieg Sebastian aus dem Bootsbauch. Das weiße Laken hatte er sich um die Schultern gelegt, es sei ihm zu stickig dort unten, murmelte er genervt, ging über Deck, stolperte über ein Tau, fluchte und sank auf die Matratze, die im Bug noch immer lag. Entschuldige, sagte ich zu Thomas, ich bin müde. Ich legte mich neben Sebastian, zerrte ein bisschen an seinem Laken und wickelte mich in ein Zipfelchen Stoff ein. Es war warm. Ich konnte nicht sofort einschlafen. Ich sah Thomas noch eine ganze Weile sitzen und in die Nacht hinausstarren.
    Wie ist es mit Miss Jordi weitergegangen, fragte ich an einem der folgenden Abende. Er sah mich erstaunt an. Er sah mich an, als könne er nicht glauben, dass mich seine Geschichte wirklich interessierte. Ob ich nicht zu müde sei? Nein, sagte ich, bitte erzähl.
    Miss Jordi, sagte er nach einer Weile und sah hinüber zu den Lichtern von Marseillan. Wo war ich stehen geblieben? Bei Miss Jordis Eltern. Ah ja. Also, bald hatte ich Angst vor den Besuchen meiner richtigen Eltern. Ich hoffte jetzt inständig, etwas würde dazwischenkommen. Ich log, sagte, das nächste Wochenende ginge nicht, wir würden eine Exkursion mit der Klasse machen. Unter der Sonnenblende von Miss Jordis kleinem Austin klemmte ein Foto von uns beiden auf dem Boot, aufgenommen von Eddy. In ihrer kleinen Wohnung hatte sie extra ein Bett für mich aufgestellt. Natürlich mussten wir aufpassen, Angestellte der Schule durften sich um einzelne Schüler ja nicht mehr als um andere kümmern. Es ging länger als ein Jahr gut. Bis sich Mutter über meine Selbstständigkeit zu wundern begann. Eines Tages erschien sie unangemeldet im Internat. Gerade

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