Außer sich: Roman (German Edition)
Variationen. Zischlaute und Spucklaute. Nachtvogelrufe, hohle, klagende Schreie. Absonderliche Lautkapriolen, die einen innehalten ließen und staunen. Unablässig versuchte ich zu verstehen. Von Sprache war all das weit entfernt. Weder Wörter noch Sätze brachte er zustande. Gelegentlich gelangen zufällige Kombinationen, Huomm oder Humm, die man als »komm« interpretieren konnte.
Es war nicht leicht, Ausdruck und mutmaßliches Befinden in Einklang zu bringen. Während man dachte, es gehe ihm gut, er fühle sich wohl im bequemen Sessel, eine Decke über den Knien, ein Kissen im Nacken, begann er zu jammern. Was er denn habe, ob ihm etwas wehtue? Berührte man ihn, um ihn zu beruhigen, schrie er gellend auf. Als habe man ihn roh gepackt. Andererseits kam es vor, dass er während einer schmerzhaften Untersuchung zärtlich geflüsterten Nonsens von sich gab. Als rede jemand in einer geheimen Sprache beruhigend einem Kind zu, das panische Angst vor dem Doktor hat.
Ich wollte ihn fühlen, nicht ansehen. Nur nicht ansehen müssen. Er hatte in den letzten Wochen abgenommen. Dabei war sein Gesicht von den Medikamenten teigig verquollen. Manchmal war von seinen Augen nur das Weiße zu sehen. Zumeist aber hingen die Pupillen oben links, halb unter den Lidern. Bisweilen glitten sie unruhig von oben nach unten oder zuckten unkontrolliert. Selten, ganz selten hatte ich das Gefühl, sie fixierten etwas. Ein Staubkorn vielleicht, einen Fliegenflügel, den vibrierenden Faden einer Spinnwebe. Und noch seltener wandte Sebastian, sagte ich seinen Namen, den Kopf in meine Richtung. Aber das konnte auch Zufall sein. Die Füße auf der Erde, den Kopf in den Wolken. Herbst, Winter. Schneewolken. Hatte die Jahreszeit gewechselt? War der Tag zur Nacht geworden? Schlafwandler, verloren gegangene Kinder, wir alle beide.
Und kam ich zurück zu ihm, auch wenn ich nur ein paar Minuten draußen gewesen war, hoffte ich, er würde mich jetzt endlich erkennen.
Halb wohnte ich wieder zu Hause. War ich zu Hause, dachte ich ununterbrochen an das rosarote Zimmer in der Klinik, an diesen Menschen, der dort im Sessel saß, im Bett lag. Überlegte, ob er wohl meine Nähe vermisste. Konnte mir nicht vorstellen, dass er nichts vermisste. Versuchte, ein Buch zu lesen. Versuchte, unsere Angelegenheiten zu ordnen. Redete mit Rufus. Vergaß, die Pflanzen zu gießen. Dachte an Erwin und das Büro, die Arbeit, die mich nicht mehr interessierte. Die ich aber bald wieder aufnehmen musste. Fühlte mich fremd in unserer Wohnung, empfand die nüchtern reduzierte Atmosphäre der Räume plötzlich als kalt. Sehnte mich in einem absurden Verlangen nach den rosa Tönen unseres Zimmers in der Klinik. Manchmal, wenn ich nach Hause gefahren war, hielt ich es dort schon nach wenigen Stunden nicht mehr aus. Ich zog mich an und machte mich wieder auf den Weg. Aber kaum war ich losgefahren, glaubte ich, keine einzige Nacht mehr in diesem Krankenzimmer verbringen zu können. Und je näher ich der Klinik kam, desto größer wurde die Angst. Einzutreten, zu Sebastian zu kommen und nichts, wieder nichts. Kein winziges Zeichen des Erkennens.
Weihnachten ging vorbei. In der Klinik gab es Konzerte, eine Lesung, eine Predigt und an Silvester ein kleines Feuerwerk. Wir blieben im Haus, die ganze Zeit. Wir saßen am Fenster und ich sah unten, auf dem Parkplatz, Autos ankommen und wegfahren. Ich sah Schnee fallen und wieder schmelzen. Ich sah das Feuerwerk am nächtlichen Himmel über dem Wald. Das kurze bunte Brennen in den Kronen der Kiefern. Die Schneewolken gespenstisch erleuchtet. Bastian, siehst du das Feuerwerk? Hörst du das Knallen? Für Ja einmal blinzeln, für Nein zweimal. Für Ja Kopfnicken, für Nein Kopfschütteln. Bastian, aber du schaust ja nicht einmal hin. Schau hin! Sein Blick hatte sich in den Falten des Vorhangs verfangen. Er war weit davon entfernt, für irgendetwas zu blinzeln oder mit dem Kopf zu nicken. Der schweflige Dunst des abgebrannten Feuerwerks verzog sich und wir gingen schlafen. Am nächsten Morgen übten wir Gehen. Wie alle Tage zuvor. Unsere Zeitrechnung hatte mit Neujahr nichts mehr zu tun. Unsere Jahre würden in Zukunft im Sommer wechseln, im August. Ohne Brimborium. Lautlos würde das vorige ins folgende Jahr übergehen, sang- und klanglos. Ich half ihm aufzustehen, stützte ihn. Hinaus auf den Flur. Er brummte im Rhythmus seiner kurzen, staksigen Schritte. Die Zehenspitzen des rechten Fußes schlurften über den Boden. Wir gingen quer, im
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