Außer sich: Roman (German Edition)
Sie war eine ältere, zurückhaltende Frau. Übersetzerin. Aber ich wusste nicht, was sie übersetzte, nicht einmal, aus welcher Sprache. Ich hatte ihr bedenkenlos den Schlüssel für unsere Wohnung anvertraut. Sie ging selten aus und empfing fast nie Besuch. In manchen Nächten hörte man sie durch die dünne Wand, die unsere Wohnungen trennte, Gespräche führen. Wir lagen im Bett, kurz vorm Einschlafen, und jeder hörte für sich ihre unruhigen Schritte, das verhaltene Raunen, die Pausen, die für den imaginierten Gesprächspartner reserviert waren, ein glockenhelles Lachen dazwischen und auch, nicht ganz so selten, etwas, das wie Schluchzen klang. Was sie sagte, war nicht zu verstehen. Unwillkürlich drängten wir uns enger aneinander.
Noch nie hatte sie mich hereingebeten. Von der Tür aus sah man bis ins Arbeitszimmer. Ein quadratischer Biedermeiertisch, ein dazu passender Stuhl. Auf dem Tisch lagen ordentlich gestapelt immer vier Bücher. Die Ecke eines Bücherregals war zu sehen und das Fenster zum Hinterhof, das von einer dünnen, dichten Gardine zur Hälfte verdeckt war.
Als sie die Tür öffnete, flitzte Rufus in ihre Wohnung. Sie lachte. Der weiß gar nicht mehr, wo er hingehört. Tut mir leid, sagte ich. Schon in Ordnung, sagte sie, ich machs ja gern. Nicht, dass es Ihnen zu viel wird. Sie schüttelte den Kopf. In letzter Zeit, sagte sie, frisst er nicht mehr richtig und faucht, wenn man ihn anfassen will. Ob er wohl Schmerzen hat? Er springt noch so locker auf den Tisch, sagte ich, da wird er wohl kaum Schmerzen haben. Ich weiß nicht, sagte sie. Sie gab mir die Post. Es war nicht viel. Ein Päckchen, ein Brief vom Finanzamt und eine Karte. Rufus, komm! Und er kam tatsächlich, nicht geflitzt, sondern eher geschlendert, und folgte mir zurück in unsere Wohnung.
Er sprang aufs Sofa und legte sich hin. Lustlos leckte er sich das Fell am Bauch. Bevor er sich den Kopf auf den Schwanz bettete, sah er mich an. Als habe er lange nachgedacht und sei nun zu einem befriedigenden Ergebnis gekommen. Als könne er jetzt ruhig die Augen schließen. Schien es mir nur so oder war sein Blick matt? Vielleicht sollte ich ihn doch nochmal dem Tierarzt zeigen.
Ich nahm die Post und setzte mich neben Rufus. Er schnurrte. Das Päckchen war von Mutter, die Karte zeigte ein Haus auf einem kahlen Hügel, im Hintergrund das Meer. Ein Steinhaus mit blauen Fensterläden und mit je einem Schornstein an den Stirnseiten. Ich drehte sie um, suchte die Unterschrift. Thomas? Thomas!
Ich fasste es nicht. Ich sah mir den Stempel genauer an. »Scilly« war noch zu lesen, »July«, und »2007«. Die Karte war also vor einem Dreivierteljahr auf den Scilly Islands aufgegeben worden. Seltsam. Hatte sie irgendwo auf einem Postamt so lange gelegen? Oder war sie zweimal um die Welt gesegelt? Das würde zu Thomas passen.
Das ist das Haus. Miss Jordi ist unauffindbar. Schade, sehr schade. Ich dachte, du solltest wissen, dass ich es wenigstens versucht habe. Thomas
Keine Adresse, keine Telefonnummer, nichts.
Miss Jordi. Ich musste lächeln. Ich erinnerte mich. Wir saßen an Deck, Thomas und ich. Sebastian schlief im Bauch der Avenir. In der Koje waren die Beats der Discomusik einigermaßen erträglich.
Ich wusste ja vorher nicht viel von Thomas. Nur, dass er in England auf einem Internat gewesen war. Auf einem sehr teuren, sehr schönen Internat. Das hatte er irgendwann mal erwähnt. Warum er mir ausgerechnet an jenem Abend diese Geschichte von Miss Jordi erzählte? Etwas musste ihn plötzlich an sie erinnert haben. Vielleicht der Austin, der am Nachmittag auf der anderen Seite des Kanals kurz geparkt hatte. Vielleicht der magere Junge, der seit einigen Tagen bei unseren Bootsnachbarn zu Gast war.
Im Internat hatte Thomas angefangen, das Essen zu verweigern. Eine Art sinnloser Hungerstreik, wenn seine Eltern die Besuche absagten. Er sich wochenlang auf diese Tage gefreut hatte, geplant war ein Ausflug ans Meer. Nur Vater und Mutter und ich. Weißt du, wie das ist, sagte er, wenn du nur noch daran denken kannst, dass deine Eltern, die du ewig nicht gesehen hast, dich besuchen, du zwei ganze Tage mit ihnen verbringen wirst, sie zwei Tage lang nur für dich da sein werden. Du schläfst nicht mehr, du isst nicht mehr. Du hast die ganze Zeit Angst, es käme noch etwas dazwischen. Du wartest. Du sitzt auf deiner gepackten Tasche und wartest. Nach und nach kommen alle anderen Eltern und holen ihre Kinder ab. Nur für dich kommt keiner. Sie rufen
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