Außer sich: Roman (German Edition)
aber nicht. Durch ihn hindurch. Die Welt war ein angebohrtes Auge, floss hinaus, entleerte sich. Ich wollte gar nichts mehr. Liegen bleiben, aus. Diese verfluchte Hoffnung. Hoffnung auf Hoffnung. Gäbe es nichts mehr zu hoffen, bräuchte man sich keine Hoffnung mehr machen. Ich könnte morgen tot sein oder heute schon, und dann? Nicht aufgeben! Es muss doch möglich sein, ein Wunder herbeizuhoffen! Ich spürte Wärme. An den Händen, die, glaubte ich, auf der Bettdecke lagen. Schlaff und müde, auch die Hände. Ich wusste nicht, wie viel ich geschlafen hatte die letzten Monate, jedenfalls nicht viel. Ich versuchte herauszufinden, was da los war, wo diese Wärme herkam. Die rechte Hand des Mannes lag auf meinen beiden Händen. Die Hände lagen gefaltet mitten auf meinem Bauch.
So nimm denn meine Hände
… Seine Hände waren warm. Schön warm. Ich ließ alles so, wie es war. Irgendwo klingelte ein Telefon. Versuchen Sie noch etwas zu schlafen, sagte er und stand auf.
Es war still im Zimmer. Als sei niemand da gewesen. Als sei nicht gesprochen worden noch vor ein paar Minuten. Im Kopf hörte ich Doktor Mankes Stimme. Sehr ähnlich in Tonlage und Modulation. Bevor wir umgezogen waren, hatte ich Manke ab und zu zwischen den Häusern der Klinik gesehen. Immer in Eile, immer auf dem Weg zum nächsten Notfall. Erst hatte ich ja geglaubt, er sei zu überhaupt keiner Emotion mehr fähig. Abgebrüht, hart geworden mit den Katastrophen. Tagaus, tagein hatte er den Menschen die schlimmsten Dinge mitzuteilen. Er war der Kugelfang. Wenn die Angehörigen in ihrer Verzweiflung aus allen Rohren feuerten. Da durfte man nicht sentimental sein. Aber vermutlich war er einfach nur ständig müde gewesen.
Jemand öffnete die Tür einen Spalt breit und lugte herein.
Das ist das falsche Zimmer, sagte eine Frauenstimme.
Aber ich bin ganz sicher, sie haben gesagt, in der 223!
Da liegt aber jemand anderes.
Kann man
jemand anderes
vielleicht jetzt bitte mal in Ruhe lassen?!
Die Tür wurde geschlossen.
Wie lange würden wir noch hierbleiben? Was würde danach sein? Zu Hause pflegen, nicht zu Hause pflegen? Geld verdienen? Ich versuchte, die Hände zu bewegen. Meine Hände steckten in geringelten Pyjamaärmeln. Eine Verbindung der Hände zum Körper konnte ich nicht mit letzter Sicherheit ausschließen. Den Pyjama kannte ich nicht. Die Hände begannen zu kribbeln. Aha. Auf einmal war es gar nicht mehr so schlimm, hier zu liegen. Die Tür war eine schwere, gepolsterte, zuverlässig schließende Tür. Auch die Fenster waren dicht. All das zur Schonung kranker Menschen, der Heilung förderlich. All das, um die Welt draußen zu halten, wovor sonst müsste man den kranken Menschen schützen? Vor Lautem, Grellem, vor zu frühem Aufstehen und zu wenig Schlaf. Man wurde geschont und abgeschottet vor Terminen und ständigem Telefonklingeln. Vor Anträgen bei Krankenkassen und Sozialämtern. Vor Entscheidungen und deren Konsequenzen. Lag man hier, musste man nichts. Niemand musste etwas von einem wollen. Man hatte das Recht auf und die Pflicht zur Ruhe. Man konnte sich in diesen weichen Wall aus Kissen wühlen, sich noch einmal umdrehen und in einen Schlaf sinken, der erst endete, wenn man ganz und gar gesund war.
Irgendwann wachte ich doch wieder auf. Wie ein Zwang kam gleich die Hoffnung zurück. Jetzt bestimmt, wenn ich zu ihm käme, würde er mich erkennen. Er würde wissen, dass ich da bin, auch wenn er es nicht zeigen konnte. Ich würde spüren, dass er wusste, dass ich da bin. Ich war überzeugt davon, es mache einen Unterschied, ob
ich
da war oder jemand anderes. Ich
musste
davon überzeugt sein, sonst. Ich durfte ihn nicht allein lassen. Er verstünde ja nicht, warum ich ihn allein ließe. Zum Beispiel jetzt.
Ich stand auf.
Loslassen, ha! Der hatte ja keine Ahnung. Ich sage es gerne noch einmal: Ließe ich Sebastian los, würde er fallen.
Ich stand auf, ich tastete mich hinüber zum Schrank. Sie hatten die Kleider ordentlich aufgehängt. Ich zog mich an.
Den Flur entlang. Um die Ecke. Geradeaus ein Stück. 239. Seit Monaten bestand meine Welt aus kranken Häusern. Ich ertrug das nicht mehr. Ich blieb stehen. Nicht einen kranken Menschen ertrug ich mehr. Keinen, dem der halbe Kopf fehlte, keinen, dem ein Krebs das Hirn zerfraß. Ich hatte eine solche Sehnsucht nach Gesundem, nach Lebendigem, nach Wachem. Falsch, ich würde es noch lange ertragen. So lange wie nötig. Ich ging weiter. Schritt für Schritt. Auch ich war ein Automat.
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