Außer sich: Roman (German Edition)
Zickzack von Wand zu Wand. Sollen wir eine Pause machen? Er ging weiter, ein Roboter. Schritt, Schritt, Schritt. Rechts, links, rechts. Er zog mich mit. Wir kamen der Wand näher. Ich dachte, er wird schon abwenden, er sieht ja die Wand oder fühlt sie zumindest. Aber er lief einfach in die Wand hinein. Erschrocken riss ich ihn zurück. Er fiel hin. Er begann zu schreien. Er schlug seinen Kopf mit Wucht auf den Boden. Er schrie. Ich schrie. Schwestern kamen und zogen mich von Sebastian weg. Ich glaube, ich wehrte mich, ich glaube, sie hielten mich fest.
Lass sie doch los, sagt Sebastian, sie will doch selber. Sie schafft das schon. Wir passen auf Jana und Bernds Kinder auf. Meinst du, sie schafft das? Klar. Sie ist doch gestern schon ohne Stützräder gefahren. Immer diese überbehüteten Kinder, hatte Jana gesagt. Kinder müssen Erfahrungen machen, auch wenns wehtut, hatte Bernd hinzugefügt. Ich weiß nicht. Loslassen!, kommt wieder Jules Befehl. Ich lasse los. Erst schwankt sie, fängt sich. Nach ein paar Metern macht das Fahrrad zwei heftige Schlenker und kippt um. Jule knallt mit dem Kopf hart auf den Boden. Schreit, steht auf, will gleich wieder aufs Fahrrad steigen. Julchen, lass gut sein! Sie hört nicht.
Bastian, sag du auch mal was! Schwere Vorhänge ließen nur wenig Licht ins Innere des Raumes, in dem ich lag. Ein Wecker tickte. Ich dachte, es sei ein Wecker, der jederzeit losscheppern konnte. Aber es war die Armbanduhr eines Mannes, der an meinem Bett saß. Ich kannte den Mann nicht. Ich kannte auch das Zimmer nicht. Es war rosa, grässlich rosa. Irgendwo hatte ich so ein Zimmer schon einmal gesehen. Ein Bild an der Wand zeigte rosa Rosen. Der Mann räusperte sich.
Wie geht es Ihnen? Er sah mich an. Ich sah weg.
Wollen Sie nicht wissen, wer ich bin? Ich schüttelte den Kopf.
Doktor Witt, Klinikpsychologe.
Sie dürfen das nicht missverstehen, sagte er. Er macht das nicht extra. Wer macht was nicht extra? Allmählich dämmerte es mir, wo ich dieses Zimmer schon einmal gesehen hatte. Ein ähnliches Zimmer, an der Wand ein Chagall, Nummer 239. Türen und Fenster vertauscht. Bastian? Wann ist das gewesen, gestern? Vorgestern? Ist es schon so spät?
Wie geht es ihm, fragte ich.
Er schläft, sagte er.
Wollen Sie reden?
Wollte ich reden? Die Decke war mit Lärmschutzplatten verkleidet. Ich zählte die Löcher. Seit Neuestem konnten Lärmschutzsysteme aus Glas hergestellt werden. Das hatte ich in einer Fachzeitschrift gelesen. Ein Widerspruch. Glas ist ein äußerst leitfähiges Material. Sie nehmen Glasplatten und fräsen lange, hauchfeine Schlitze hinein. Was der Vorteil von Glas in der Schalldämmung war, hatte ich schon wieder vergessen.
Zugegeben, die Lebensqualität weist Lücken auf.
Was machen wir bei lückenhafter Lebensqualität?
Nichts, wir leben damit. Wir lernen, damit zu leben.
Wir suchen in den Lücken nach Gott.
Gott zeigt sich nur, wo etwas fehlt.
Oder auch nicht.
Einer, der eine Brille trägt, und einer, der keine Brille trägt.
Das kann man doch nicht vergleichen. Äpfel mit Birnen.
Will ich reden? Ich bin der Meinung, ich will nicht reden. Der Mann bildet sich Fragen ein, die keiner gestellt hat. Er findet Antworten, die keiner hören will. Er denkt, er kann mit jemandem wie mir über mangelhafte Lebensqualitäten reden. Mit mir!
Was soll das?
Der Mann sieht mich an, erwartungsfroh.
Ich will nicht reden, ich will schweigen.
Sie müssen reden, sagt er, es wäre besser.
Gar nichts muss ich.
Jetzt noch so tun, als ob
ich
mir alles einbilde. Spinne ich jetzt auch schon? Sicherung durchgebrannt.
Wer hat was gesagt?
Ich kanns auch nicht ändern.
Ich kann nicht mehr unterscheiden, was in meinem Kopf gesagt wird und was außerhalb. Das müssen die Drogen sein, die Medikamente, die sie mir ohne meine Zustimmung und nur zu meinem Besten in die Vene gespritzt haben. Dass ich so wirr bin. So zerfleddert innerlich. Dass ich an schalldämmende Glasscheiben denke, während es in Wirklichkeit um Leben und Nichtleben geht. Um to
be or not to be
.
Sie sollten mehr auf sich selbst achtgeben, Sie müssen auch mal loslassen. Auch loslassen will gelernt sein. Wir können das zusammen lernen, wenn Sie wollen.
Jaja. Besserwisser. Klugscheißer, blöder.
Loslassen! Unendlich mühsam kam es mir vor. Eine winzige Drehung des Kopfes, weg von der Deckenecke, hin zu dem Mann, hat er sich eigentlich vorgestellt oder habe ich seinen Namen auch schon wieder vergessen? Ich sah ihn an, sah ihn
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