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Außer sich: Roman (German Edition)

Außer sich: Roman (German Edition)

Titel: Außer sich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Fricker
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eine Gated Community, die ihre Bewohner bewahrt vor den Zumutungen des Alltags draußen auf den Straßen der Stadt. Zwischen den Grundstücken gab es keine Zäune, die Kinder sollten ungehindert überall spielen können. Würdest du hier leben wollen, hatte ich Sebastian gefragt, als wir die Häuser besuchten im Frühsommer. Im Familiengetto? Wie aus der Pistole geschossen. Wobei, wenn man Kinder hat, gab ich zu bedenken. Wir haben aber keine Kinder, sagte er. Ich boxte ihn zum Spaß in die Seite. So meinte ich das nicht, sagte er. Weiß ich doch. Vor fast jedem Haus stand ein großes Trampolin.
    Sebastians Häuser wirkten leicht und freundlich, gelassen modern. Auf einer der Terrassen hing ein Windspiel. Verwehte, verträumte Klänge. Es gab eine Kindertagesstätte, einen Pavillon mit Bar, einen Dorfplatz. Ein paar Väter spielten Boule, die frisch gepflanzten Lindenbäumchen gaben noch keinen Schatten. Alles wohl durchdacht. Soziologie und Architektur. Möglichst viele Begegnungen. Winken von Terrasse zu Terrasse. Die Wege zur Bar entlang der Gärten. Günstig für einen kleinen Schwatz, da und dort. Das hier war eine homogene Gesellschaft gut verdienender Geschmacksmenschen.
    Ich sehnte mich plötzlich nach Misstönen in der sicheren, satten Designerwelt. Ich suchte nach Landhauskitsch aus dem Baumarkt, nach Selbstgezimmertem. Ich prüfte die Briefkästen, einen nach dem anderen. Ob nicht aus Versehen doch einer darunter wäre mit geprägtem Posthorn, mit goldfarbenen Schnörkeln. Fehlanzeige. Ein durchnässter, halb zerrissener pinker Lampion hing in einem Busch. Auf der Terrasse baumelte noch immer das Windspiel. Zwei der Messingröhren fehlten.
    Mittlerweile hatten die ersten Hausbesitzer spanische Wände auf ihre Terrassen gestellt. Auch die eine oder andere Buchenhecke war im Herbst zwischen die Grundstücke gepflanzt worden.
    Bevor ich das Gelände verließ, drehte ich mich noch einmal um. Ich versuchte, mich an die frühere Situation der Straße zu erinnern. Was für Häuser hier gestanden, wo Lücken geklafft hatten. Jedenfalls war es grauer gewesen, an eine gewaltige Brandmauer erinnerte ich mich, auf deren fensterloser Fläche »Minol ist Spitze« gestanden hatte. Oder »Minol an der Spitze«, genau wusste ich es nicht mehr. Es war eine der wenigen Straßen ohne Bäume gewesen, sie hatte abweisend gewirkt und öde. Nicht einmal mehr zu erahnen war die frühere Trostlosigkeit der Straßenflucht, selbst jetzt, im Winter, schien alles beseelt und belebt. Dennoch empfand ich dieses urbane Dorf als Fremdkörper, als seltsam unpassend in einer Gegend wie dieser.
    Währenddessen fischte ich in der Tasche nach dem Telefon. Ich drückte die Kurzwahltaste für Erwin. Nach dem ersten Klingeln ging er ran. Als habe er auf meinen Anruf schon lange gewartet. Wann kommst du wieder, fragte er, ohne Hallo zu sagen. Ich musste lächeln. Ich stehe hier vor Bastians Townhäusern. Ah, sind gut geworden, nicht? Na ja. Montag, sagte ich, wie wärs, wenn ich Montag wieder käme, erst mal halbtags?
    Rufus’ Tumor schien inzwischen nicht weiter gewachsen zu sein. Das, immerhin, war tatsächlich ein kleines Wunder. Aufschub. Als ich die Tür öffnete, wartete er schon. Er strich mir um die Beine. Fast wäre ich über ihn gestolpert. Rufus! Er maunzte, vorwurfsvoll und sehr ungeduldig. Ich richtete ihm das Futter. Als ich ihn streicheln wollte, fauchte er. Was hast du denn? In der ganzen Wohnung roch es nach Katzenurin, ich lüftete viel zu selten. Auf dem Balkon lag noch Laub vom letzten Herbst, ein paar Kastanien. Die weiße Rose stand auf dem Fensterbrett, das Wasser in der Vase war längst verdunstet, die Blüte vertrocknet. Rufus kam mir nach, sprang auf den Balkontisch. Hey! Also wer noch so springen kann! Das Wachstischtuch war an den Kanten brüchig geworden. Die Farben ausgeblichen. In der Mitte hatte sich ein flacher See Regenwasser gebildet. Rufus schüttelte die Pfoten, erst die rechte, dann die linke. Komm, sagte ich, lass uns reingehen. Er hatte sein Futter nicht angerührt. Rufus, hast du keinen Hunger? Seine Barthaare vibrierten leicht, er zog die Lefzen hoch und leckte sich über die Nase. Schau, Rufus, hier Futter, friss! Aber er schlich nur um das Schälchen herum, roch daran, wandte sich ab. Vielleicht sollte ich das Futter wechseln.
    Ich klopfte bei der Nachbarin, um ihr zu danken. Dafür, dass sie an meiner Stelle für Rufus sorgte. Und dass sie die Post für mich entgegennahm. Eigentlich kannte ich sie kaum.

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