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Außer sich: Roman (German Edition)

Außer sich: Roman (German Edition)

Titel: Außer sich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Fricker
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stiller, mit blankem Linoleum ausgelegter Pfade. Mit dem Lift fuhr ich in den zweiten Stock. Sebastian war im Aufenthaltsraum. Krumm saß er in einem der rosafarbenen Sessel, das Kinn auf der Brust. Neben ihm saß Irma, seine neue Zimmernachbarin, und stickte. Alle nannten sie Irma, aber sie hieß anders. Der Fernseher lief. Der Papst besuchte Afrika, im Papamobil fuhr er durch die Slums und verbot Kondome. Sebastians Hände lagen im Schoß, in der Linken hielt er eine Kette mit großen Holzperlen. Als seien einzig die Finger seiner linken Hand noch am Leben, klaubten sie mit fahrigen, flatternden Bewegungen Perle um Perle entlang der Schnur. Hallo, Bastian! Ein Speichelfaden zog sich von seinem Mundwinkel hinunter auf die Hände, auf die farbigen Holzperlen. Was hast du denn da? Einen Rosenkranz? Er hob den Kopf nicht. Ich ging in die Hocke, suchte seinen Blick, der aus verquollenen, wässrig fahlen Augen vage in einen Winkel stierte. Auch jetzt, als ich vor ihm kauerte, sah er mich nicht an. Immer noch hoffte ich, er würde endlich seinen Blick aus den inneren Welten zurückholen und ihn auf mein Gesicht richten. Mich ansehen, mich erkennen. Er hörte mit der Perlenklauberei auf und begann, sich mit der rechten Hand auf den Oberschenkel zu klopfen. Ich strich ihm die Haare aus der Stirn.
    Aus seinem Zimmer holte ich Rollstuhl, Jacke und Schuhe. Was meinst du, wollen wir spazieren gehen? Raus in die Sonne. Kommst du mit? Ich trocknete ihm Mund und Hände mit einem Tuch, zog ihm die warmen Kleider, die Schuhe an. Vorsichtig fasste ich ihn um die Hüfte und hob ihn auf die Beine. Setzte ihn in Bewegung. So war es; man setzte das Getriebe in Gang, diesen mechanischen, steifen Bewegungsablauf seiner Hälfte unterhalb der Taille. Rumpf, Kopf, Arme und Hände schienen nicht das Geringste mit Unterleib und Beinen zu tun zu haben. Zweigeteilt, zerbrochen. Bei jedem Schritt fürchtete man, er würde stolpern und fallen, nach vorn- oder hintenkippen, aber er hatte ein erstaunliches Gleichgewicht entwickelt in den letzten Wochen des Trainings. Ich half ihm in den Rollstuhl. Ich sagte, tschau, Irma, bis nachher. Sie ließ sich in ihrer Arbeit nicht stören. Hinaus, hinunter zum See. Als ich zurückblickte, sah ich Irma am Fenster stehen.
    Er saß im Rollstuhl wie zuvor im Sessel. Er brummelte jetzt. Schau das Licht! Dort über dem See, das Licht, die glitzernde Fläche, kleine Wellen. Hörst du die Amsel singen? Spürst du die Sonne auf der Haut? Bastian, es ist Frühling! Natürlich siehst und hörst und spürst du. Aber die Eindrücke verlieren sich, finden keinen Widerhall, nirgends. Sofort vergessen ist wie nie erlebt. Ein Fotoapparat, alles funktioniert, aber leider ist kein Film eingelegt.
    Bastian. Schau mich an! Bitte! Umarme mich! Denk an uns! Erinnere dich! Dies und das. Ist nie geschehen, woran ein Mensch sich nicht erinnert? Die Erinnerung verloren, die Zeit verloren. Als hätte ich unser gemeinsames Leben allein gelebt.
    Wir.
    Wohnten in einem billigen Hotel am Hudson River. Ein gewaltiges, wunderschönes Cast-Iron-Kontorhaus, aber entsetzlich verlottert. Nur noch ein Einzelzimmer war frei. Zweimal drei Meter, ohne Air-Condition. Das Fenster ging auf einen engen Hof und rechts oben war die Spitze des Empire State Building zu sehen. Nachts in unterschiedlichen Farben illuminiert. Wir lagen in dem schmalen Bett auf schweißfeuchten, dumpf riechenden und mit Brandmalen übersäten Laken. Das Fenster offen, die Tür angelehnt, in der Hoffnung, wenigstens ein kleiner Luftzug fände so den Weg durch unser Zimmer. Auf dem Flur schlurften halbseidene Gestalten vorbei. Wir waren am Morgen im MoMA gewesen und hatten uns die Architektursammlung angesehen, danach waren wir nach Coney Island gefahren. Jetzt lagen wir hier und schwitzten. Da fragtest du mich, ob ich eigentlich Kinder wolle. Ich fragte zurück, und du? Das ist nicht erlaubt, einfach eine Gegenfrage zu stellen. Ich ließ nicht locker. Na ja, sagtest du, schon, aber noch nicht jetzt gleich, später. Der Feueralarm ging los und wir schossen vom Bett hoch. Rafften das Nötigste zusammen, stopften es in die Taschen und flohen aus dem Zimmer. Natürlich war es ein Fehlalarm und offensichtlich war das allen Gästen klar, außer uns. Jedenfalls erschien sonst keiner im Flur. Und ich blieb dir die Antwort schuldig.
    Wir vermieden das Kinderthema bis zum letzten Tag. Um uns abzukühlen, standen wir in der Eingangshalle eines Wolkenkratzers, niemand hatte uns am Zutritt

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