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Außer sich: Roman (German Edition)

Außer sich: Roman (German Edition)

Titel: Außer sich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Fricker
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früher oder später.
    Stimmte das?
    Vielleicht wäre es nie passiert. Vielleicht ist es passiert, weil wir einen fatalen Fehler gemacht haben.
    Wer kann das wissen?
    Ach was.
    Was wäre, wenn.
    Wir verheiratet wären, fragtest du.
    Wir, verheiratet?
    Du massiertest durch die Socken meine Zehen. Ich las Osang, Reportagen. Kleine melancholische Geschichten über ostdeutsche Gewinner, Verlierer und Anpasser. Hattest du mir empfohlen. Du zogst mir die Socke aus. Du nahmst jeden einzelnen Zeh zwischen deine Finger und knetetest ihn. Mir war warm und kalt zugleich. Ich legte das Buch zur Seite, schloss die Augen. Einmal kitzelte es. Beim großen Zeh sagtest du, mehr zu dir selbst, was wäre, wenn wir verheiratet wären? Würde es etwas ändern?
    Was hast du eben gesagt? Du zogst mir die Socke wieder an, dafür die am anderen Fuß aus. Begannst wieder mit dem kleinen Zeh. Würdest du Ja sagen, wenn ich dich fragen würde, ob du mich heiratest? Ja klar, sagte ich. Sonst noch was? Ich mein das ernst, sagtest du ganz ernst. Es passt nicht zu ihm, dachte ich, heiraten zu wollen. Das passt nicht zu dir, sagte ich, heiraten zu wollen. Wieso, fragtest du und hörtest auf zu massieren. Mach weiter, sagte ich, bitte! Nur wenn du mich heiratest. Das ist Nötigung, sagte ich, das ist Erpressung.
    Also gut, ich heirate dich.
    Er machte weiter, massierte mir den zweiten Fuß. Ich lag da und überlegte, ob ich das eben gerade nur geträumt hatte. Ich freute mich und spürte seine warmen Hände und zweifelte und wusste, dass er mit so etwas keine Witze machen würde.
    So, fertig, sagtest du und zogst mir die Socke wieder an. Dann bist du aufgestanden, in die Küche gegangen. Hast den Weißwein aus dem Kühlschrank geholt. Korkenzieher, Gläser. Eine gefühlte Ewigkeit hat es gedauert, bis du die Flasche geöffnet und eingeschenkt hattest. Auf Katja und Sebastian, sagtest du, auf Sebastian und Katja, sagte ich.
    Ich nahm seine Hand, legte sie mir an die Wange. Seine Finger, die keine Zehen mehr massierten. Finger wie Fühler, nervös vibrierend, flüchtig über alles hinwegtastend. Er zog sie nicht weg. Er versuchte es nicht einmal. Aber das Zittern, das Flattern wurde stärker, breitete sich wie ein schnelles, alles verzehrendes Fieber in seinem ganzen Körper aus. Sein Kopf wurde von einer unsichtbaren Macht nach hinten gezogen. Sofort ließ ich los.
    Jeden Tag nach der Arbeit besuchte ich Sebastian. Ich verbrachte Zeit mit ihm im Heim oder wir spazierten zusammen durch die Stadt. Selten wagten wir uns in belebtere Quartiere vor. Gedränge, zu laute Geräusche. Zu viele Kneipen. Sebastian versuchte, sich auf jeden freien Stuhl zu setzen. Überall sah er Stühle und Bänke. Anfangs freute ich mich darüber. Er sah also Bänke, er schaffte eine simple Kombination. Bank gleich Sitzmöbel, gleich hinsetzen, gleich ausruhen. Das war schon viel. Dafür musste man dankbar sein. Später wurde es mühsam, weil er nicht eine einzige Sitzgelegenheit auslassen wollte.
    Wir gingen Hosen kaufen und Pullover. Alle Sachen wurden ihm ständig zu groß. Praktische, nicht schöne Kleidung. Keine gut geschnittenen Jeans, sondern Trainingshosen aus derbem dehnbarem Baumwollstoff. Grau oder dunkelblau. Hosen, die über die Windel passten. Keine weißen Hemden mehr. Sweat- und T-Shirts. Ich versuchte, die Farben so schlicht wie möglich zu wählen, so wie er es mochte. Früher gemocht hatte. Grau, schwarz, gedecktes Grün. Niemals mit Aufschrift oder albernen Bildern. Ich kaufte ihm eine neue Burberry-Jacke, seine alte war ihm viel zu weit geworden.
    Nach und nach besuchten wir die Orte, die ihm früher etwas bedeutet hatten. Wir gingen über den weiten Platz vor der Neuen Nationalgalerie. Beinahe hatten wir einen Zusammenstoß mit den Kids, die dort in halsbrecherischem Tempo Rollerskates fuhren. Wir saßen auf den Stufen des Amphitheaters im Mauerpark in der Sonne. Einmal kamen wir an den Townhouses vorbei. In den Gärten blühte roter Mohn. Fenster standen offen. Tauben gurrten. Sebastian wurde immer unruhiger. Was hast du denn? Regen dich die Häuser auf? Das sind deine Häuser, Bastian, die hast du gebaut. Wo ist eigentlich deine Kette? Haben wir deine Kette vergessen? Seine Finger zappelten. Er begann, einen Zipfel seiner Jacke zu bearbeiten, aber Baumwolle hatte nicht die richtige Konsistenz, die Härte fehlte, das Klappern fehlte. Sein Körper verkrampfte sich zusehends. Alles, was ihn noch interessiert, dachte ich, sind die Perlen dieser blöden

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