Außer sich: Roman (German Edition)
Kette. Nichts sonst bedeutet ihm noch etwas. Komm, sagte ich, gehen wir zurück. Eilig stakste er neben mir her.
Mindestens einmal im Monat musste er ins Krankenhaus. Er hatte oft Blasenentzündungen, denen mit Antibiotika nur schwer beizukommen war. Eines Nachts riss er sich den Katheter raus. Sie riefen mich nicht an. Ich erfuhr erst am nächsten Tag davon, als ich ihn besuchen kam. Er lag fiebernd im Bett. Wie hatte das passieren können? Ich vertraute ihnen nicht. Und wenn er sich das Ding wieder rausreißt? Was, wenn er sich das immer wieder rausreißt?
Sie sagten, die Ärzte sagten, man sollte über ein Blasenstoma nachdenken.
Der Heimleiter zitierte mich nach einiger Zeit in sein Büro. Es wäre besser, sagte er, wenn ich Sebastian unter der Woche nicht mehr besuchte. Natürlich verbiete er es mir nicht, wir meinen nur, sagte er, es wäre einfacher für ihn, sich einzugewöhnen, sich anzupassen. Wir hätten ja von Freitag an das ganze Wochenende gemeinsam. Es wäre gut, wenn er auch an den Aktivitäten der Gruppe teilnehmen könnte, damit er sich so bald wie möglich im Heim zu Hause fühle.
Er aber nahm an keinen Aktivitäten teil. Er saß im Sessel, saß auf dem Bett, saß auf dem Klo. Keinen Menschen, der vorbeiging, kein Bild an der Wand, keine Aussicht aus einem Fenster hatte er schon einmal gesehen. Er saß, bis jemand kam und ihn erlöste. Ihn vom Sessel zum Essen an den Tisch führte, vom Tisch aufs Klo, vom Klo ins Bett. So vergingen seine Stunden und Tage, so verging die Zeit seines Lebens.
Der Mann übersah mich, als er wenige Schritte nur vom Heim entfernt aus einem Hauseingang kam. Auch ich hatte ihn nicht gesehen. Weil ich, in Gedanken den Asphalt anstarrend, stumpf vor mich hin ging. Wir liefen also in uns hinein, sozusagen. Schnell wollte ich wütend werden. So wie ich in letzter Zeit oft schnell wütend wurde und nicht wusste, mit wem ich meine Wut teilen sollte. Ich teilte sie dann zum Beispiel mit der Mitarbeiterin eines Callcenters, die gerade zur rechten Zeit anrief. Anschließend schämte ich mich. Gerne hätte ich mich entschuldigt, aber wen hätte ich zurückrufen sollen? Der Mann sagte, sorry, und wollte schon weitergehen. Aber etwas ließ ihn innehalten. Er sagte, Moment mal, und ins Handy, kann ich dich zurückrufen?, während er mich nicht aus den Augen ließ. Hat er gedacht oder gespürt, wenn ich jetzt weitergehe, dann. Oder er hat einen verwahrlosten Garten in meinen Augen gesehen, der ihn an seine Kindheit erinnert hat, die romantisch verträumten Blüten, das üppig wuchernde Unkraut. Jedenfalls hat er das später gesagt. Er habe im selben Moment begriffen (sagte er später), dass dieser geheime Garten Pflege brauche, Ordnung, weil sonst bald gar nichts mehr wachsen würde. Also standen wir einer vor dem anderen und sahen uns an. Hallo, sagte er, als hätten wir uns an einem ganz anderen Ort vor Jahren kennengelernt und uns jetzt zufällig wieder getroffen (auch das sagte er später). Ich bin David. Das passte nicht dazu. Das war, als hätte ich den Namen eines Freundes vergessen. Katja, sagte ich. Wollen wir ein Stück zusammen gehen? Es klang, als fragte er mich, ob wir ein Stück Leben zusammen gehen wollen. Ich nickte. Wir gingen ein ganzes Stück zusammen. Ich spürte eine Unruhe, ich war mir nicht sicher, ob es nicht nur seine Unruhe war. Auf diese Art kann man doch niemanden kennenlernen, dachte ich. Manche versuchten übers Internet passgenau Männer und Frauen kennenzulernen und nichts wurde daraus. Eines Tages sitzt man in der U-Bahn jemandem gegenüber und hopp. So kann es gehen. Nach einer Weile sagte ich, ich sei verheiratet. Ich weiß nicht, warum ich das sagte. Vor allem, warum ich noch hinzufügte, mein Mann sei oft auf Geschäftsreise. Momentan gerade in Kopenhagen. Wollen wir uns heute Abend zum Essen treffen, Kathie, fragte er, ohne mit der Wimper zu zucken. Niemand sonst nannte mich Kathie. Ich widersprach nicht. Er hatte eine angenehme Stimme, ziemlich tief. Ich nickte. Wir trennten uns vorne an der Köpenicker. Er ging nach rechts, ich nach links.
Zu Hause stellte ich mich vor den Spiegel. Sah mich an. Über vierzig. Eine Übervierzigjährige im Spiegel. Ich fragte mich, ob dieser Spiegel kaputt sei. Ob das rechtens sei, dass er mein Abbild so in die Höhe zerre. So spitz zulaufen lasse. So dunkle Schatten unter die Augen male. So verbrauchte, faltige Flächen zeige. So ausgewaschene Klippen um Nase und Mund. So müde hängende Augenlider.
Schon
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