Außer sich: Roman (German Edition)
lange hatte ich mir nichts mehr zum Anziehen gekauft. Ich probierte ein paar von den noch guten, aber alten Kleidern. Ich sah mich an mit den Augen eines Fremden. Mit Augen, die nicht wissen, wie schön du vielleicht früher einmal gewesen bist.
David war jünger als ich und lebte allein. Hast du Kinder, fragte er. Du? Nein. Er hatte sich fein gemacht. Ein grünes Hemd, dem man ansah, dass es neu war. Seine Hände waren schmal, hellhäutig, aber auf Hand- und Fingerrücken wuchsen lange dunkle Haare. Bürohände, hätte Sebastian gesagt, ohne Schwielen, ohne Muskeln, ohne Kraft. Es waren Hände, die alles weich und zärtlich und ohne rechten Mut anfassen würden. Ungefragt erzählte er von seiner letzten Freundin. Wie sie ihn verlassen hatte, kurz bevor sie in ein Haus auf dem Land einziehen wollten, das er für sie beide gekauft hatte. Dass das Haus groß genug gewesen wäre für Kinder. Zwei Jahre sei das jetzt her. Oder drei? Ich hörte nicht richtig zu. Aber an Enttäuschungen wachse man, sagte er. Ich sah ihn an. Vorerst sind wir nur zwei Menschen, dachte ich, die ihre Vergangenheit dem anderen doch noch nicht gleich haarklein auf die Nase binden müssen. Meine Augen rutschten immer wieder aus seinen Augen heraus. Ihn schien das nicht zu irritieren, im Gegenteil. Seine Hand legte sich auf meine Hand. Seine Finger waren kühl. Er war IT-Experte, leitete einen Support Service, er schrieb nebenbei Gedichte, er spekulierte an der Börse, aber nur zum Spaß. David streichelte meine Finger, meine Hände. Eine Straßenbahn fuhr draußen vorbei, irgendwo läuteten Kirchenglocken, unter dem Nebentisch lappte ein Hund Wasser.
Ich bin jetzt eine, dachte ich, die das Abenteuer sucht nach langen Ehejahren. Das Aufregende, das andere.
David streichelte die Innenseiten meiner Unterarme. Ich zog die Arme nicht weg. Er suchte meine Augen. Wieder senkte ich den Blick und beobachtete stattdessen den Wein im Glas. Eine leichte Vibration erzeugte Bewegung auf dem Spiegel des Weins. Feine Ringe, die zur Glaswand zogen und nicht verebben konnten. Und, sagte ich, ohne ihn anzusehen, hatte sie einen anderen? Sie ist zu ihrem alten Freund zurück, sagte er, der sie gequält hat, psychisch, meine ich. Sie wollte sich weiter quälen lassen. Als könne er das heute noch nicht fassen, schüttelte er den Kopf und wollte einen Schluck Wein nehmen, aber das Glas war leer.
Als sei mir alles gleichgültig, gab ich die Fäden aus der Hand. Ließ dem Spiel seinen Lauf. Ich griff nicht ein, ordnete nichts, stellte nichts klar. Später, dachte ich, später kann ich ihm immer noch die Wahrheit sagen, wenn es sich lohnt, wenn sich zeigen wird, dass es sich lohnen könnte.
Wir trafen uns abends in der Kneipe, zum Essen, auf ein Bier nur, und gingen danach zu ihm. Nie zu uns. Glaubte ich, Sebastian könne jederzeit nach Hause kommen oder warte auf mich zu Hause, ich müsse Gerüche überdecken und Ausreden erfinden?
Wo warst du?
Wo warst du so lange?
Häppchenweise servierte ich David meine Illusion. Beinahe, sagte ich, hätte Sebastian etwas gemerkt, letzten Dienstag. Du musst unbedingt mit deinem After Shave sparsamer sein. Bleibst du heute Nacht bei mir? Ich kann nicht. Ich hatte den Wecker auf meinem Handy gestellt, es klingelte, während wir beim Essen saßen. Ich sah auf das Display, nahm an und flüsterte gleichzeitig stumm, mit übertriebenen Lippenbewegungen, es sei Sebastian, psst, mein Mann!, und ging raus, um ungestört zu reden. Ich begann so etwas wie ein armseliges zweites Leben zu führen. Die Sicherheit, die mir David gab, indem er fraglos glaubte.
Er war nicht schwer. Er war schlank, fast mager, nicht besonders muskulös. Seine Brust kaum behaart. Ich lag auf dem Rücken, die Augen schloss ich nicht. Ich sah: Davids Körper, wie er sich nach hinten bog, die Unterseite seines Kiefers mit dem spärlichen dunklen Bartwuchs, die Narbe unter dem Kinn, seinen Adamsapfel. Der Schultergürtel, wie im Krampf, alle Muskeln, alle Sehnen gespannt. Der Bauch, die Stelle, wo wir zusammenkamen. Die Jalousien waren halb geschlossen. Es war noch hell, es war Spätsommer.
Danach blieb er auf mir liegen. Bis ich ihn sanft hinunterschob, um mir eine Zigarette zu nehmen. Er rauchte nicht. Er sah an die Decke, schien nachzudenken. Ich könnte ein Buch schreiben, sagte er plötzlich, über uns, unsere Liebe, wie sie begonnen hat, wie sie andauert, wie sie niemals enden wird. Was meinst du? Ich drückte die Zigarette, kaum halb geraucht, aus. Mir war
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