Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Außer sich: Roman (German Edition)

Außer sich: Roman (German Edition)

Titel: Außer sich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Fricker
Vom Netzwerk:
ich mich wieder aufrichtete, knallte er seinen Kopf gegen meine Stirn. Im letzten Moment fing ich mich. Taumelte zurück, suchte Halt an den Fliesen, rutschte ab. Er biss sich in den Handrücken. Ich rappelte mich hoch. Ich stand mit dem Rücken zur Wand. Ich versuchte, ihn festzuhalten, es ging nicht, seine Haut und meine Hände waren glitschig. Irgendwann gelang es mir, aus der Ecke zu schlüpfen, mir die Hände zu waschen und die Tropfen aus der Tasche zu holen. Ich gab ihm zehn Tropfen. Seltsamerweise weigerte er sich nie, die Tropfen zu nehmen. Sah er den Löffel, sperrte er sofort den Mund auf. Bis ihn das Valium zur Ruhe zwang, zerbiss er sich die ganze Hand. Zitternd brachte ich ihn wieder zu Bett. Als er lag, still dalag, desinfizierte ich die Wunden, verband sie. Ich öffnete das Fenster.
    Niemand lebte noch in dieser Welt. Würde es in Zukunft nur noch mit vielen Tropfen gehen, mit immer mehr Tropfen? Ruhigstellen. Damit man ihn nicht festbinden musste. Ohne Medikamente hätte er permanent Krämpfe, Schmerzen, die Hölle, nicht nur die Vorhölle wie das hier. Ein Mensch, der in sich eingesperrt werden muss.
    So darf man nicht denken, dachte ich. Du weißt ja gar nicht, was er wahrnimmt. Du kannst es nicht wissen. Denk an heute Mittag. Man muss damit rechnen, dass er klopft und klopft und keiner ihn hört. Gebetsmühlenhaft wiederholt in der Hoffnung, all dies habe wenigstens den einen Sinn: das Klopfen zu hören, irgendwann.
    Oder er klopft nicht. Er weiß weder, was mit ihm geschehen ist, noch hat er einen Namen für seinen Zustand. Nicht wie Irma, die genau weiß, wie viel sie vergisst. Die eine panische Angst hat vor den Lücken. Er sieht sich nicht selbst in seiner Vorstellung, weil er keine Vorstellung mehr hat. Nichts, das noch gesagt werden wollte. Jemandem, der Welt, mir.
    Ich stand auf und ging ins Bad. Auch an meiner Stirn wuchs ein Horn. Ich nahm den Duschkopf. Überall waren Kotspritzer, unten in der Duschtasse lagen verteilt die größeren Brocken, Schalen, Körner, ein kleines Stück Plastik. Mit dem Waschlappen drückte ich alles durch die Löcher im Abfluss. Machte sauber. Sauber machen, schrubben, scheuern.
    Ich hatte nicht mehr die geringste Lust, hierzubleiben. Ich hatte auch keine Lust, nach Hause zu fahren. Was hatte ich denn erwartet? Selber schuld. Man hatte es mir ja gesagt, nicht gut, so viele Ortswechsel in so kurzer Zeit. Ich würde die Wirtin fragen, ob sie uns das Frühstück aufs Zimmer bringt. Man konnte ja keinem Sebastians Essmanieren zumuten. Blicke von anderen auf einen sabbernden, schmatzenden, rülpsenden, furzenden Sebastian. Das musste niemand aushalten. Wie für einen großen, garstigen Hund fühlte ich mich für Sebastian verantwortlich. Für seine durchdringenden, nicht menschlichen Schreie. Für den Gestank. Für die Wut. Als hätte ich ihn falsch erzogen.
    Bevor wir abreisten, gingen wir nochmals zum Meer hinunter. Nebellicht schimmerte auf Sebastians Gesicht. Seine Augen blickten nach innen, Glasaugen, schielend, zuckend. Ich nahm sein Kinn und drehte sein Gesicht der See zu. Er wollte nicht. Meine Finger gruben sich in sein Kinn und zwangen sein Gesicht der See zu. Schau, unser Meer, erinnerst du dich an Südfrankreich, an die Avenir, schrie ich, erinnerst du dich? Er begann zu grunzen. Genug Geduld haben. Geduld. Länder, von der Erdkrümmung noch verdeckt. Manchmal, während des Waschens, wurde sein Glied steif. Ich konnte mir nicht abgewöhnen, es für Lust zu halten.
    Ich umarmte ihn. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn angeschrien hatte, weil ich zu fest zugedrückt hatte. Der Wind fauchte um unsere Körper. Zog und zerrte an den Haaren, plünderte alle warmen Nischen. Lieber, Bastian, Lieber, nach und nach bildeten sich auf seiner Wange rote Flecken vom Druck meiner Finger.
    Wenn alles anders gekommen wäre.
    Ich hätte ihn an diesem Morgen geweckt um sieben Uhr.
    Er zieht mich zurück ins Bett, wir schlafen miteinander. Lass uns krank sein, sagt er, und wir verschieben den Besuch. Ich stehe kurz auf, um Rufus sein Futter zu geben, dann zurück ins Bett. Weiterschlafen, aufwachen, wieder einschlafen. Das ganze Wochenende im Bett verbringen, auf dem Balkon, jedenfalls ohne Termine, ohne Stress. Wir wären am Sonntag noch etwas spazieren gegangen, dem Schatten nach, die pralle Sonne meidend.
    Was passiert ist, wäre eine Woche später passiert, ich wäre noch schwanger geworden.
    Es wäre ohnehin irgendwann passiert, hatte Doktor Manke gesagt,

Weitere Kostenlose Bücher