Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Außer sich: Roman (German Edition)

Außer sich: Roman (German Edition)

Titel: Außer sich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Fricker
Vom Netzwerk:
freitags immer nach Hause und brachte ihn sonntagabends oder Montag früh zurück. Wir verbrachten meine Ferien zusammen. Nichts hatte sich verbessert, nichts verschlechtert. Er kannte mich nicht, kein Wunder war geschehen, bisher. Ich traf David. Ich baute Dachgeschosse aus, Wintergärten an. Es ging um nichts. Ich fragte mich nicht mehr, ob ich glücklich war oder unglücklich. Scheißegal. Ich brauchte kein Glück, keine Liebe, keine Wärme, keine Anerkennung, brauchte rein gar nichts. Das ist jetzt so, dachte ich, das wird so bleiben. Meistens aß ich unterwegs an einem Imbiss, mal einen Döner, mal eine Chinapfanne. Stehend an einer Theke. Ich kochte nur, wenn Sebastian bei mir war. Ich wusch mir die Haare nicht öfter als einmal die Woche. Du riechst, sagte Erwin, sorry, aber ich muss dir das jetzt mal sagen. Na und? Ich hatte ja kaum etwas mit Kunden zu tun. Nicht wegen der Kunden, sagte Erwin, wegen dir. Einmal fuhr ich einfach los. Setzte mich ins Auto und fuhr nach Süden. In der Lausitz ging mir der Sprit aus. Kurz vor Hoyerswerda. Bastian, erinnerst du dich an Krabat? Unsere beiden Bücher, dein Brêzan, mein Preußler, nebeneinander im Regal. Deine Jugend und meine Jugend, zweimal die gleiche Geschichte der Liebe, nur anders erzählt. Wie wir uns vorgelesen haben. Abend für Abend. Niemals wollten wir hierherkommen. Nach Hoyerswerda, nach Kamenz oder Schwarzkollm. Bastian. Du würdest nicht wissen wollen, wie es hier wirklich aussieht. Rechts und links der Straße Tagebau, endlose Braunkohlereviere, weit offene Erdwunden. Wo in unserer Fantasie Wälder waren, Weiher, Dörfer, winzige verschlafene Flecken. Wo die schwarze Mühle stand. Klar, heute ist eben heute, würdest du sagen. So ist das.
    Ich versuchte Sebastian anzurufen. Er ging nicht ran.
    Im Herbst kam mich Mutter besuchen. Mir schien, ihr Gesicht, ihre ganze Erscheinung sei noch zarter geworden. Sie trug ein schmales, kirschrotes Kostüm und in den Ohren goldene Kreolen.
    Wie siehst du denn aus!, sagte sie.
    Ich zuckte mit den Schultern. Wie sollte ich schon aussehen? Während ich älter wurde, schien sie immer jünger zu werden. Komm rein.
    Gott, wie sieht es denn hier aus!
    Mutter, bitte!
    Sie nahm mich in den Arm, komm, Liebes, wie lange haben wir uns nicht gesehen? Mutters Geruch. Mutters Duft. Getreide, Tee, Cremes von Weleda, Schachtelhalmshampoo. Das seiden schimmernde, schneeweiße Haar. Was bin ich froh, dass du da bist, Mutter! Bereit, jede Enttäuschung auf der Stelle zu vergessen. Ich richtete ihr unser Schlafzimmer her, ich fragte sie nicht, warum sie eigentlich erst jetzt komme. Ich fragte nicht, wie lange sie bleiben wolle. Sie stellte ihr Köfferchen neben das Bett und begann, in der Wohnung Ordnung zu schaffen. Im Kühlschrank lagen ein paar schwarz gefleckte Tomaten, ein ranziges Stück Butter, uralte Eier. Wo gehst du immer einkaufen, fragte sie. Zusammen einkaufen gehen. Sie schob den Wagen und ich ging daneben, ich war ein Kind, die Hand auf dem Gitter, zufrieden, nicht zwischen Bohnen und Erbsen wählen zu müssen.
    Abends ging ich früh schlafen. Mutter setzte sich zu mir ans Sofa. Einem Erwachsenen sang keiner zum Einschlafen noch Lieder vor.
Der Mond ist aufgegangen
. Mutter saß da und leistete mir Gesellschaft. Sie hielt meine Hand. Wärmte sie. Wartete, bis mir die Augen zufielen. Löste dann ihre Hand aus meiner, schob sie unter die Decke, zog mir die Decke bis unters Kinn, strich noch einmal darüber, bevor sie hinausging.
    Durch die geschlossene Tür hörte ich sie herumgehen, in der Küche hantieren. Mit Geschirr klappern. Ich hörte sie ab und zu husten. In dieser Nacht wachte ich nicht morgens um drei auf. Ich überlegte für einmal nicht, wie all das weitergehen sollte. Stellte mir nicht vor, mitten in der Nacht, Sebastian sei gesund geworden und keiner merke es. Keiner höre ihn klopfen. Tock, tock in meinem Kopf, Eisen auf Eisen, Knochen auf Holz. Ich höre dich, aber ich kann dich nicht finden.
    Diesmal erzählte Mutter weder von Krankheiten noch von Wunderheilungen. Sie hörte mir zu. Ich hörte ihr zu. Wir sprachen nicht von Sebastian. Ich fragte sie: Erinnerst du dich?
    Woran? Was meinst du?
    An den Schmalsohn zum Beispiel.
    Den Schmalsohn? Wie kommst du jetzt auf den? Dass
du
dich an den erinnerst, du warst da noch sehr klein.
    Frau Schmal vom ersten Stock, die kaum mehr vor die Tür ging. Die immer ihren schwachsinnigen (so hat man damals doch gesagt?) erwachsenen Sohn zum Zigarettenkaufen geschickt

Weitere Kostenlose Bücher