Außer sich: Roman (German Edition)
herunterzunehmen. Ich versuchte, es nicht wie einen Vorwurf klingen zu lassen. Therese sagte, das tue ihr leid, aber. Was aber? Nichts. Ein Sturm fegte über die Stadt. Wetterseite. Wind trieb Regen gegen die großen Scheiben der Dachfenster. Mutter saß neben mir, den Blick gesenkt, sie aß wenig. Auch Sebastian aß wenig, trank wenig. Ich wunderte mich. Sonst konnte er ja nicht genug bekommen, ob es an Mutter lag? Ob er krank war? Mutter hatte neue Bachblüten mitgebracht. Stillschweigend stellte sie die Fläschchen nach dem Essen neben Sebastians halb vollen Teller. Kommt ihr bitte nach dem Duschen ins Wohnzimmer, sagte Therese, wir singen jetzt immer noch ein paar Lieder vor dem Zubettgehen. Ich putzte Sebastian die Zähne, rasierte ihn, duschte ihn. Die anderen saßen schon vor dem Fernseher. Therese kam mit der Gitarre. Sie machte den Fernseher aus. Einer sprang auf und begann, sich mit der Faust gegen die Stirn zu schlagen. Leon, sagte Therese, du kannst danach wieder fernsehen. Komm, setz dich. Aber Leon stampfte schimpfend davon. Ohne sich weiter um ihn zu kümmern, entnahm Therese einer Kiste Triangel, Tamburin, Rasseln, Klopfhölzer, verteilte die Instrumente. Sebastian bekam keins. Zu gefährlich, er schlüge sich das Instrument an den eigenen Kopf oder an den Kopf des Nachbarn. Dann begann sie Folksongs zu singen. Sie hatte eine satte Altstimme, sie schrammte nicht einfach über die Saiten, sondern zupfte die Begleitmelodie in geübter Fingertechnik. Die Instrumente rasselten und klopften und klingelten. Manche hielten den Takt, andere nicht. Manche schaukelten mit dem Oberkörper vor und zurück. Einer stand auf und begann durch die Hose zu masturbieren. Sebastian klopfte sich mit der flachen Hand auf den Schenkel. Ab und zu lachte er laut auf. Ich sah Mutter die Lippen bewegen, ob sie sang, konnte ich nicht hören. Einmal wischte sie sich mit dem Handrücken über die Augen. Vielleicht erinnerte sie sich an Vater und Elmer.
Therese sang noch drei, vier Lieder und zum Schluss
If you’re happy and you know it clap your hands
. Ich nahm Sebastians Hände und klatschte. Mutter klatschte. Dann sammelte Therese die Instrumente ein und verstaute sie in der Kiste. Jemand machte den Fernseher wieder an. Aktenzeichen XY lief. Ich brachte Sebastian zu Bett.
Der Sturm hatte nachgelassen. Auf dem nassen Pflaster lagen abgebrochene Äste und viele bunte Blätter. Vorne an der Hauptstraße hielt ich ein Taxi an. Was ist, fragte ich, warum sagst du nichts? Es geht ihm gut dort, im Heim, wirklich. Ich denke, es geht ihm gut, sie geben sich Mühe. Ich weiß nicht, was sie sich vorgestellt hatte. Was hast du denn erwartet? Dass er wieder der Alte ist? Sie sah mich nur an.
Freitag früh brachte ich Mutter zum Bahnhof. Auf halbem Weg merkte sie, dass sie die Fahrkarte vergessen hatte. Wir drehten um. Aber das Ticket lag nicht auf dem Tisch, wo sie dachte, es hingelegt zu haben. Wir suchten. Denk nach, Mutter, wo könnte es sonst noch sein. Schau nochmal in der Tasche nach, zwischen den Kleidern im Koffer. Nichts. Sie saß auf dem Bett, die Hände im Schoß. Ich weiß nicht, ich kann mich nicht erinnern, ich dachte. In letzter Zeit passiert mir das oft. Geld verschwindet, Schlüssel verschwinden. Mutter. Ich setzte mich neben sie und legte den Arm um ihre Schultern. Sie lehnte sich an mich, ihr Gesicht lag an meinem Hals, sie weinte. Ich streichelte ihr über das Haar, den Rücken. Mutter. Das ist doch nicht so schlimm, das passiert uns allen mal. Wir kaufen halt eine neue Fahrkarte. Als ich aufstand und mich umdrehte, um Mutter zu helfen, sah ich unter dem Kopfkissen die Ecke eines Umschlags hervorlugen.
Der Zug war natürlich weg. An einem Imbiss tranken wir noch einen Kaffee. Fährst du jetzt direkt in dieses Hausach oder wie das heißt. Sie wollte an einem Yogakurs teilnehmen. Im Schwarzwald. Sie nickte. Ja, direkt. Sie wirkte etwas fahrig, als habe sie die Zeit bei mir erschöpft. Kein Wunder. Mutter, sagte ich, danke für alles. Auch das Gehen schien ihr etwas schwerer zu fallen. Soll ich dir noch ein Sandwich holen für unterwegs? Sie schüttelte den Kopf. Nicht nötig. Bestimmt nicht? Ich umarmte sie. Ich umarmte sie lange. Dann stieg ich mit ihr ein, suchte einen Platz. Wartete neben ihr bis kurz vor der Abfahrt, stieg aus, ging zum Fenster des Abteils, legte die Hand an die Scheibe. Ich suchte ihre Augen. Leute stiegen ein in letzter Minute. Mutter sah kurz weg, weil sich jemand neben sie hinsetzen wollte.
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