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Außer sich: Roman (German Edition)

Außer sich: Roman (German Edition)

Titel: Außer sich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Fricker
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hat.
    Einmal trafen wir ihn vor dem Haus. Er trug die Zigaretten in einem Beutelchen, schwenkte es hin und her. Er machte eine Art Verbeugung und blickte Vater dabei unverwandt an. Seine Augen hinter der dickglasigen Brille sahen aus wie Fischaugen. Ganz klein und rund und scharf gezeichnet. Er stand und starrte. Frau Schmal, am Fenster, machte Zeichen. Sie winkte und paddelte, als sei ihr Fischkind auf unerklärliche Weise aus dem Aquarium entwichen und drohe zu ersticken, draußen, ganz allein auf dem Trockenen.
    Mutter lachte. Und weißt du, was dein Vater da gemacht hat?
    Nein, was denn?
    Er hat der Frau Schmal die Zunge rausgestreckt. Dein Vater, stell dir vor! So ein alberner kleiner Junge wohnte in ihm. Beinahe hätte ich es auch nicht gesehen, er wollte ja nicht, dass wir es sehen. Genauso wie Frau Schmal nicht wollte, dass man die Fäden sieht, an denen sie ihren Sohn zappeln ließ.
    Manches Mal habe ich gedacht, dein Vater, der wird wohl nie ganz erwachsen, der behält in seinem Herzen für immer so eine kleine Höhle, so ein Dumme-Jungen-Versteck, in das er ganz plötzlich abtaucht. Physisch noch da, aber trotzdem weg. Als sei ihm dieses Leben zu eng, in dem er sich wie ein Vater zu benehmen hat, wie ein Ehemann und wie ein Lehrer. Als brauche er eine Katakombe, zu der sonst niemand Zutritt hat. Da tapeziert er mit seinem liebenswürdigen Trotz die Wände. Mit den Allüren, die in einem Erwachsenenleben nichts zu suchen haben. Wusstest du eigentlich, dass wir noch ein Kind wollten, aber dass es nicht mehr geklappt hat?
    Nein, wusste ich nicht.
    Stattdessen hat sich dein Vater mit dem Schmalsohn angefreundet. Er hat ihm Lieder beigebracht.
    Aber daran müsste ich mich doch erinnern.
    Du warst noch sehr klein.
    Sie sind zusammen angeln gegangen. Ich habe sie einmal beobachtet. Mit aufgekrempelten Hosenbeinen saßen sie am Flussufer und sangen:
    Take this hammer, carry it to the captain
.
    Sie schlugen sich auf die Schenkel. Im Takt des Liedes.
    Sie lachten. Sie spielten Fangen. Sie fingen Fische.
    Ich glaube, der einzige, dem Vater jemals seine Höhle gezeigt hat, war dieser Bub, der bald dreißig war.
    Alles hat sich verändert, aber die Räume der Erinnerung, die ich mit meiner Mutter bewohne, sind gleich geblieben. Möbelstücke, die sich auf wundersame Weise ergänzen. Das Geflecht der Worte, die gefallen sind. An Bilder geknüpft. Bilder, überblendend in Szenen. Allmählich belebt sich das Gesicht des Schmalsohnes. Hat er auch einen Namen? Elmer, sagte Mutter. Klar, Elmer hieß er. Die Kinder nannten ihn Eimer. Passt auf, der Eimer kommt, habt ihr geschrien. Vater und ich haben dir verboten, ihn Eimer zu nennen.
    Jetzt, ja genau, der Name und das Gesicht, das so schräg war. Wie Lucky Luke mit Brille sah er aus. Das Kinn zu schräg, die Augen zu klein, die Stimme zu hoch.
    Dein Vater sagte, der ist nicht blöd, der sieht nur blöd aus. Lesen und schreiben konnte Elmer zwar nicht, aber singen konnte er. Und wie! Ein glockenreiner Countertenor. Vater sang vor, Elmer sang nach, lernte schnell. Sie sangen zusammen Seeger,
Little Boxes, made of Ticky Tacky
, Dylan,
Blowin in the Wind
. Später auch Motetten, zweistimmig sogar. Es war herzergreifend. Mein Gott. Als Schmals weggezogen sind, war es, als habe Vater ein eigenes Kind verloren.
    Wie konnte ich all das bloß vergessen!
    Du warst noch sehr klein. Und du warst eifersüchtig. Höllisch eifersüchtig. Du glaubtest, Elmer nehme dir deinen Vater weg.
    Das stimmt nicht, sagte ich gereizt.
    Mutter sah mich an. Komm schon, du wirst doch nicht etwa heute noch böse sein auf Elmer, oder?
    Mitte der Woche besuchten wir Sebastian. Er hatte eine neue Bezugsbetreuerin, Therese. Ihr schwarzes, krauses Haar wippte lustig bei jedem Schritt. Als wir kamen, saß Sebastian auf dem Klo. Er saß da wohl schon sehr lange. An seinen Beinen hatte der Druck der Brille rote Zeichen hinterlassen. Ich half ihm aufzustehen, windelte ihn neu und begleitete ihn hinüber zum Sessel. Die Tür stand offen. Lydia, eine Mitbewohnerin, kam herein und fasste mir an die Wade. Kein Blick zu Sebastian. Deine Wade, sagte sie, ist ja ganz wabbelig. Ich weiß, sagte ich. Du musst mehr Treppen steigen, sagte sie. Ja, ich weiß. Und weniger rauchen, fügte sie hinzu. Essen ist fertig, rief Therese. Er muss noch aufs Klo vor dem Essen, sagte sie, als wir uns an den Tisch setzen wollten. Er war schon auf dem Klo, sagte ich, die ganze Zeit war er auf dem Klo, jemand hat vergessen, ihn

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